Ein Kommentar von Mathias Bröckers.
„Der geographische Drehpunkt der Geschichte“ lautete der Titel eines Vortrags, den der Politikberater und Direktor der “London School of Economics”, Halford Mackinder, im Jahr 1904 veröffentlichte. In der aktuellen Ausgabe der Kulturzeitschrift “Lettre International” ist dieser Vortrag jetzt zum ersten Mal auf Deutsch erschienen, wofür man sehr dankbar sein muss. Denn es handelt sich zum einen um einen klassischen Schlüsseltext der Geopolitik und zum anderen ist Mackinders „Heartland“-Theorie nach wie vor von erstaunlicher aktueller Bedeutung. Wer das „Herzland“, die Mitte zwischen Europa und Asien und somit das Zentrum des eurasischen Kontinents beherrscht, beherrscht die Welt, lautete Mackinders These. Da durch die kommenden Technologien der Eisenbahnen und des Automobils der Handel und Wandel zwischen Europa und Asien unausweichlich sei, wäre die auf der Seeherrschaft beruhende britische Weltmacht chancenlos. Vor allem wenn das rohstoffreiche Russland mit dem industriestarken Deutschland zusammenwachse. »Wer Osteuropa regiert, beherrscht das Heartland; wer das Heartland regiert, beherrscht die Weltinsel; wer die Weltinsel regiert, beherrscht die Welt«, brachte Mackinder seine Geostrategie später auf den Punkt.
Wer die Geschichte des 20. Jahrhunderts auf diesem Hintergrund liest, kann erstaunliche Einsichten über die Kontinuität gewinnen, mit der Briten und Amerikaner ihre globale Machtpolitik betreiben. Etwa über die Frage, warum Hitler und die Wehrmacht massiv von der Wall Street finanziert wurden, oder warum die Nato nach 1991 mit ihren Raketen unbedingt bis an die russische Grenze vorrücken musste oder warum 2014 mit einem Putsch in der Ukraine ein russlandfreundlicher Präsident durch einen russlandfeindlichen ausgetauscht werden musste oder warum eine zweite „North-Stream“-Pipeline durch die Ostsee den Amerikanern ein Dorn im Auge ist. Immer geht es um Mackinders „Herzland“ in dem auf keinen Fall Handel, Wandel und Frieden herrschen darf, weil dies die transatlantische Dominanz bedrohen würde.
Es zieht sich von dieser Theorie aus dem Jahr 1904 eine Linie über Hitlers Geostrategen Karl Haushofer zum geopolitischen Berater von fünf US-Präsidenten, Zbiginew Brzezinski bis in die aktuelle Politik des US-Imperiums. Über die Aktualität Mackinders schreibt in “Lettre International” auch der Historiker Alfred McCoy, dessen eminentes Grundlagenwerk “Die CIA und das Heroin -Weltpolitik durch Drogenhandel” für ein Verständnis der aktuellen internationalen Konflikte und Kriege unverzichtbar ist. Ebenso wie eine Kenntnis der Generalstrategie im “Great Game”, die auf Mackinder zurückgeht und im geopolitischen Match auf dem “eurasischen Schachbrett”, wie Brzezinski es nannte, nach wie vor auf der Agenda steht.
Vor diesem Hintergrund kann man dann auch den scheinbaren Irrsinn der Tagesnachrichten ein wenig begreifen, etwa warum aus Afghanistan immer neue Produktionsrekorde für Opium und Heroin gemeldet werden, während in USA Tausende an dieser Überproduktion krepieren; oder warum eine Gas-Pipeline zwischen Russland und Deutschland ein “Problem” darstellen soll, während der ökonomische und ökologische Hochgrad-Schwachsinn, Fracking-Gas mit Riesentankern von Amerika nach Europa zu schippern, von der EU gefördert wird. Oder warum Polen sich gerade von den USA für irrsinnige Milliarden “Patriot”-Luftabwehr andrehen lässt – “gegen die Russen”, gegen deren neue Hyperschall-Raketen die veralteten Patriots aber keinerlei Chance haben.
Nadelstiche ins „Herzland“ zu setzen, Konflikte zu schüren, Waffen zu liefern und Kriege anzuzetteln um ein Zusammenwachsen des Ostens Europas mit dem Westen Asiens zu verhindern ist nach wie vor die grundlegende außenpolitische Agenda des US-Imperiums. Dazu gehört auch, die strategischen Angelpunkte an den Rändern des eurasischen Doppelkontinents zu kontrollieren – vor allem die rohstoffreichen Regionen des Persischen Golfs. Wobei die desaströsen Kriege in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien mittlerweile, so Alfred McCoy, weniger an ein kühnes geopolitisches Gambit erinnern als „an Deutschlands katastrophale Entscheidung, das russische Kernland anzugreifen.“
Er sieht darin den „sicherlich letzten imperialen Versuch, sich eine Angelpunktposition am Rand des eurasischen Kernlands zu sichern, vergleichbar mit den Forts des britischen Kolonialismus entlang der Nordwestgrenze.“
Darum geht es auch bei den jüngsten Kriegsdrohungen gegen den Iran, der ja gar keine Atomwaffen besitzt und sich regelmäßig von den internationalen Behörden kontrollieren lässt – anders als Israel, das illegal welche hat und jegliche Kontrollen verweigert. Dass es sich bei den jüngsten US-Kriegen, wie Alfred McCoy meint, um den „letzten imperialen Versuch“ des überdehnten amerikanischen Imperiums handelt, könnte sein, denn Russland und im Hintergrund auch China haben spätestens im Syrienkrieg klar gemacht, dass sie weitere Expansionen des US-Imperiums nicht dulden werden, auch keinen „Regimechange“ im Iran.
Dass Teheran im April den Ausstieg aus dem US-Dollar angekündigt hat und sein Öl künftig in Euro abrechnet, ist eine Provokation erster Klasse. Saddam Hussein und Gaddafi hat es das Leben gekostet, als sie aus dem Petro-Dollar aussteigen wollten – ihre nahezu wehrlosen Länder wurden umgehend überfallen und verwüstet. Doch anders als Libyen oder Irak hat der Iran zwei mächtige eurasische Atommächte als Verbündete im Hintergrund. Und auch die EU scheint nicht bereit, aus den Atomverträgen mit Iran auszusteigen und mit den USA, Israel und Saudi- Arabien weiter an der Eskalationsschraube zu drehen. Die Leichenberge und das Chaos, das dieses infernale Trio im Irak und in Syrien produziert hat, würden bei einem Angriff auf Teheran in neue Dimensionen wachsen – bis hin zum Schrecken eines nuklearen Kriegs. Dass ein solcher Großkonflikt der Blöcke weniger auf amerikanischem oder russischem oder chinesischem Boden, sondern im kontinentalen mittleren Europa zu Katastrophen führen würde, hat man in Brüssel, Berlin und Paris offenbar verstanden. Es geht noch immer um Mackinders „Weltinsel“, die nicht zusammenwachsen darf.
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