Ein Kommentar von Rainer Rupp.
Letzte Woche hat die Türkei ihre lange geplante Militäroffensive in Nordsyrien begonnen. Erklärtes Ziel ist es, die von den Amerikanern bewaffneten und ausgebildeten Kurdenmilizen der YPG aus einem 35 Kilometer tiefen Streifen entlang der türkisch-syrischen Grenze zu verjagen und die zivile Kurdenbevölkerung in einem Akt der ethnischen Säuberung gleich mit zu vertreiben. In dem so geleerten Grenzstreifen sollen dann auf syrischer Seite unter Kontrolle des türkischen Militärs arabisch-stämmige syrische Flüchtlinge aus der Türkei zurückgeführt und angesiedelt werden.
Diese unter dem Schutz türkischer Bajonette zurückgeführten syrischen Flüchtlinge würden dann – so das Kalkül in Ankara – in dem Grenzstreifen eng mit den türkischen Besatzern/Beschützern zusammenarbeiten. Um ihre neuen Häuser, Felder und Dörfer gegen alle Rückkehrversuche der vertriebenen Kurden zu verteidigen, würden die neu angesiedelten syrisch-arabischer Bewohner des Grenzstreifens jedes Eindringen kurdischer YPG-Kräfte sofort melden. Damit wäre aus Sicht Ankaras ein dauerhafter Keil zwischen die YPG-Kurden in Syrien und der als kurdische Terror-Organisation angesehenen PKK in der Türkei getrieben. Die türkische Militärinvasion, die unter dem Namen „Friedensquelle“ abläuft, hätte ihre Mission erfüllt.
Aber es kam anders.
Bereits wenige Tage nach der türkischen Invasion hatte der politische Arm der YPG, der unter dem Namen „Syrische Demokratische Kräfte“ (SDF) firmiert, mit der syrischen Regierung von Baschar al- Assad eine Vereinbarung getroffen, wonach diese den Kurden bei der Verteidigung Rojavas, – so heißt das syrisch-kurdische Stammgebiet, in dem die YPG operiert – zu Hilfe kommt. Das war das Resultat langjähriger und zäher Vermittlungen russischer Diplomaten. Viele Indizien deuten darauf hin, dass die Syrisch Arabische Armee (SAA) von Präsident Assad auf diese Entwicklung vorbereitet war, denn sie konnte in einer unglaublichen Schnelle darauf reagieren.
Unter dem Vorwand, das letzte verbliebene Nest der islamistischen Kopfabschneider in der Provinz Idlib im Nordosten Syriens in einer Großoffensive zu befreien, wurden in den letzten Wochen SAA-Verbände mit schwerem Gerät in der Nähe der Kurdengebiete zusammengezogen. Sofort nach Inkrafttreten des Abkommens mit den YPG-Kurden stießen dann Einheiten der russischen Militärpolizei, begleitet von Lotsen der YPG bis zu den syrisch-türkischen Grenzübergängen vor. Ihnen folgten die Einheiten der SAA mit schweren Waffen.
Die russische Militärpolizei stellt seither einen Puffer zwischen den regulären syrischen und türkischen Truppen dar. Zugleich sichert die russische Luftwaffe und Flugabwehr das Gebiet gegen mögliche türkische Luftangriffe, die seit Sonntag jedoch unterblieben sind. Eine einzelne türkische F-16, die sich über dem Gebiet wahrscheinlich verirrt hatte, wurde so gleich von russischen Jägern vertrieben.
Laut türkischen Medienberichten soll es Äußerungen von Präsident Erdogan geben, dass er auch mit einer Lösung zufrieden wäre, in der in einer ersten Phase die Russen, und später – im Rahmen eines Abkommen mit Damaskus – syrische Regierungstruppen sicherstellen, dass es entlang der türkisch-syrischen Grenze von Seiten der YPG-Milizen keine Grenzverletzungen gibt, keine illegalen Übertritte, militärische Einfälle oder Waffenschmuggel für PKK-Gruppen gibt. Dies könnte die Blaupause für eine nachhaltige Lösung der Probleme entlang der syrisch-türkischen Grenze darstellen, erst Recht, wenn Russland, das sowohl in Ankara als auch in Damaskus hohes Ansehen genießt, als Garantiemacht auftreten würde.
Das wäre eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten, mit einem Wermutstropfen für die syrischen Kurden, die ihren – wenn auch unrealistischen – Traum von einer unabhängigen Republik in Rojava aufgeben müssten, wenn sie ihre ethnische Vertreibung durch die türkische Armee verhindern wollten. Dafür stehen jedoch auch für die syrischen Kurden die Chancen gut für ein baldiges Ende des Krieges und für einen Wiederaufbau in Frieden als gleichberechtigter Teil des syrischen Staates.
Es ist vor diesem Hintergrund, dass in unserem selbsternannten „Qualitätsmedium“ par Excellence, nämlich in der ARD-Nachrichtensendung ein Interview mit dem Luxemburgischen Außenminister Jean Asselborn gezeigt wurde, in dem dieser ohne Widerspruch die Lage an der türkisch-syrischen Grenze auf den Kopf gestellt hat und die Öffentlichkeit zugleich auf die Möglichkeit eines NATO-Eingreifens an der Seite der Türken vorbereitete hat.
Hier Minister Asselborn im Wortlaut:
„Doch was passiert, wenn die syrische Armee mit Militärangriffen auf die türkische Offensive reagiert? Strenggenommen müsste dann der Bündnisfall ausgerufen werden. Dieser wird in Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrags beschrieben. Darin heißt es: Ein Angriff auf ein NATO-Land ist als Angriff auf alle NATO-Staaten zu verstehen. Bisher passierte dies überhaupt erst ein einziges Mal – nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA.“
Nach dieser in mehrerer Hinsicht falschen Aussage des Ministers folgte dann eine Kommentierung der ARD, welche die irreführenden Ausführungen des Luxemburgers nicht hinterfragte sondern sogar als Tatsache bekräftigte. Da heißt es, dass angesichts der Eskalation in Nordsyrien Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn nun davor gewarnt habe, dass weitere Länder in einen Krieg hineingezogen werden könnten. […] ARD-O-Ton: „Stellen Sie sich vor, Syrien oder Alliierte von Syrien schlagen zurück und greifen die Türkei an“, sagte Asselborn. „Auf Deutsch heißt das, dass alle NATO-Länder, wenn die Türkei angegriffen würde, dann einspringen müssten, um der Türkei zu helfen.“
Was Asselborn und der ARD-Sprecher hier losgelassen haben, ist kein harmloser Quatsch sondern gefährliche Irreführung der Öffentlichkeit. Der in Artikel 5 der NATO-Charta festgelegte, sogenannte gegenseitige Beistandspakt aller NATO-Mitgliedsstaaten gilt nicht – mit der Betonung auf NICHT(!) – wenn ein NATO-Land ein anderes Land angreift und dieses Land sich wehrt, bzw. zurückschlägt. Die NATO-Charta gibt das nicht her, egal wie man den Text dreht oder wendet. Dafür hatten bei der Gründung der NATO 1949 die US-Amerikaner selbst gesorgt. Denn damals waren viele NATO-Staaten noch in koloniale Kriege verwickelt. Zudem war das NATO-Mitglied Türkei schon damals ein unsicherer Kantonist mit Begehrlichkeiten jenseits seiner Grenzen.
Weil Washington auf keinen Fall in koloniale Auseinandersetzungen seiner NATO-Vasallen hineingezogen werden wollte, – wofür die spätere Suez-Krise ein gutes Beispiel ist – stellten die Vereinigten Staaten in dem berühmten Artikel 5 sicher, dass die Beistandsverpflichtung nur dann gilt, wenn ein NATO-Land von außen angegriffen wird, nicht aber, wenn ein NATO-Land einen anderen Staat überfällt.
Fakt ist und bleibt, dass die Türkei im vorliegenden Fall den souveränen Staat Syrien militärisch angegriffen hat. Egal welche Minderheit dort auf syrischer Seite im Grenzgebiet faktisch die Macht ausübt, völkerrechtlich gibt es keine Rechtfertigung für die türkische Überschreitung der syrischen Grenze mit Waffengewalt. Aber statt den Bruch des Völkerrechts durch die Türkei zu konstatieren, schwadronieren NATO-Politiker wie Asselborn und NATO-Pressituierte nicht nur im ARD sondern auch in der Tageszeitung „Die Welt“ und in anderen „Qualitätsblättern“ davon, „dass alle NATO-Länder, wenn die Türkei angegriffen würde, dann einspringen müssten, um der Türkei zu helfen.“
So einfach kann aus dem Widerstand der Regierung Assad gegen die türkische Besetzung Nordsyriens ein möglicher „Angriff“ gegen die Türkei konstruiert werden.
Artikel 5, der Grundpfeiler des NATO-Charter scheint heute offensichtlich bei führenden NATO-Politikern und Medienvertretern in Vergessenheit geraten zu sein. Zwar stimmt es, dass früher die USA von ihren Vasallen nicht in deren kolonialen Kriege hineingezogen werden wollte. Aber seit der Auflösung der Sowjetunion hat umgekehrt Washington stets darauf bestanden, dass seine NATO-Vasallen sich an den US-Angriffskriegen beteiligten, angefangen vom ersten US-Krieg gegen Irak 1990, gegen Jugoslawien 1989, über Afghanistan 2001, wieder gegen Irak 2003, Libyen 2011 und zuletzt gegen Syrien – unter dem Vorwand ISIS zu bekämpfen. In keinem dieser Fälle – nur mit einem kleinen Fragezeichen hinter Afghanistan – gab es gemäß NATO-Artikel 5 eine vertragliche NATO-Verpflichtung, den Amis bei ihren Kriegen zu helfen.
Hier stellt sich die Frage, warum unser Allgemeiner Regierungsdienst (ARD) und auch die Printmedien kritiklos Asselborns Stimmungsmache für den NATO-Bündnisfall verbreitet haben. Haben sie vielleicht den zutiefst aggressiven Charakter der NATO und den damit verbundenen, Orwellschen Neusprech derart verinnerlicht, das für sie Krieg „Frieden“ und Angriff „Verteidigung“ bedeutet?
Vielleicht ist es aber auch die Drohung des türkischen Präsidenten Erdogan, Europa erneut mit Millionen Flüchtlingen zu überfluten, die hier Wirkung zeigt. Dafür spricht auch der halbherzige EU-Beschluss, nur ein symbolisches Verbot für weitere Waffenexporte in die Türkei auszusprechen. Schließlich hat Erdogan gegenüber der EU und vor allem gegenüber Deutschland die besseren Karten, 3,5 Millionen davon.
Der Fall Afghanistan liegt etwas anders. Formal wurde der Bündnisfall nach Artikel 5 auf Verlangen der USA ausgerufen, aber die Begründung, dass die afghanische Regierung die Terrorangriffe vom 11. September 2001 zu verantworten habe, war lächerlich. Tatsächlich haben später Dokumente gezeigt, dass die Eliminierung der Taliban-Regierung von Washington schon seit langem geplant war, denn die blockierten das Energie-Projekt der US-Firma UNACOL in Form einer Pipeline von Zentralasien über Afghanistan zu einem Verladehafen in Pakistan, dem die US-Regierung hohe Priorität gab.
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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung.
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Bildhinweis: Alexandros Michailidis / Shutterstock
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