Ein Kommentar von Susan Bonath.
Flaschensammler, Bettler, Zelte, Planen und Matratzenlager unter den Spree-Brücken: Es genügt ein Rundgang um das Berliner Regierungsviertel, um einen Eindruck des Ausmaßes des Elends im reichen und kalten Deutschland zu gewinnen. Früher war es Linken klar: Die Herrschafts- und Besitzstrukturen des Kapitalismus führen zu diesen wachsenden sozialen Verwerfungen. Sie verankern den Egoismus als Schutz vor einem stets drohenden Abstieg tief in der Gesellschaft. Sie produzieren Krieg im Kleinen wie im Großen.
Man war sich einig: Der Klassenkampf von oben ist allgegenwärtig. Nur ein organisierter Klassenkampf von unten kann dessen überall sichtbare Auswirkungen bremsen. Rechts sein bedeutete, die Interessen der Herrschenden zu verteidigen. Links stand, wer auf der Seite der Unterdrückten kämpfte. „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“, schrieben Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest schon vor 170 Jahren. Der Feind waren die Großkapitalisten, die Besitzer der Fabriken und Banken und ihr politischer Apparat.
Heute ist vieles unklar. Unsichtbare Großaktionäre mit unübersichtlichen Beteiligungen haben Fabrikbesitzer mit Gesichtern abgewechselt. Wessen Interessen verfolgt ein bestimmter Verlag, ein Konzern, eine Bank nun eigentlich? Die bürgerliche Demokratie suggeriert uns allen ein Mitspracherecht.
Alle vier Jahre können wir ein Kreuz auf dem Wahlzettel machen. Wir können uns in Initiativen und Vereinen engagieren. Die Debatten im Bundestag sind online zu verfolgen. Ein ganzer Apparat von Juristen deutet für uns die Gesetze. Sie sind so umfangreich, dass niemand sie in Gänze kennen, geschweige denn, verstehen kann. Allein am Zweiten Sozialgesetzbuch, an das sich Hartz-IV-Bezieher halten müssen, verzweifeln sogar Fachleute. Wer schreibt die Gesetze? Wer schlägt sie in wessen Interesse vor? Wer bezahlt die, die sie durchwinken und die, die ihre Einhaltung überwachen und durchsetzen?
Die Unschärfe der Realität eines komplexen bürokratischen Apparats hat die Gesellschaft erobert. Auf der anderen Seiten haben sich die Ausbeutungsverhältnisse stabilisiert. Der Arbeiter bei Volkswagen leidet keine Not. Die Teilzeitverkäuferin hat sich daran gewöhnt, von ihrem Ehemann finanziell abhängig zu sein. Man hat eine Wohnung, einen Kleinwagen, seinen Arbeitsalltag. Die Ausbeutung selbst versteckt sich in der Normalität, verschwindet aus der Wahrnehmung. Die Unschärfe der Realität hat die Köpfe erobert.
Das zeigt sich auch in der Linken. Die einst unumstrittene Gewissheit des notwendigen Klassenkampfes von unten gegen ein rechtes oben ist einem Kampf gegen ein ominöses rechts gewichen. Faschismus wird nicht mehr als rabiateste und chauvinistischste Spielart des Kapitalismus begriffen. Rechts wird umgedeutet zu einem moralischen Versagen einzelner, angelehnt an die Propaganda des Politapparats, wonach die Armen selbst schuld an ihrer Armut seien.
So konstruieren heute angeblich fortschrittliche Linke aus allerlei moralischen Vorwürfen rechte Weltbilder: Aluhüte, strukturelle Antisemiten, Putinversteher, Amerikahasser. Komische Leute eben, die sich fragen, wer wirklich hinter 9/11 steckt, die die Deutsche Bank, die FED oder Monsanto kritisieren. Angeblich Aufgeklärte erklären diese zu ihrem Hauptgegner. Dabei war es einst Usus unter Linken, dass der Kapitalismus ungeheuerliche Verbrechen hervorbringt. Das tut er, seit der existiert. Diese auszusprechen, diese zu geißeln, gegen diese anzugehen, immer im Sinne der darunter Leidenden, war der Kern linker Organisation.
Heute dürften sich die Profiteure die Bäuche vor Lachen halten. Das Unglaubliche ist geschehen. Menschen, die sich für links halten, verteidigen die Herrschaft über sich selbst gegen als komisch oder abstrus empfundene Fantasien. Selbst jeder Verdacht, erkennbare Widersprüche in einem barbarischen System möglicherweise zu weitgehend zu kritisieren, lässt die Deuter des »reinen Bewusstseins« aus allen Rohren feuern. In der Konsequenz verhindern sie jedwede Kritik. Der Generalverdacht, der einstmals dem kapitalistischen System galt, gilt heute sogenannten »Verschwörungstheoretikern«.
Überall Wahnsinnige, die man nur meiden kann, um nicht angesteckt zu werden? Oder sind nicht jene viel mehr vom Wahn besessen, die solcherlei bescheidene Denkempfehlungen an ihre Genossen weitergeben?
Berlins Kultursenator Klaus Lederer ist nur ein Paradebeispiel dafür. Angeblich emanzipiert ignoriert er die Massen an Obdachlosen in seiner Stadt, die zu übersehen unmöglich ist, aber bekämpft eisern jene »Aluhüte«, in deren Köpfe er selbstsicher aus einem Brei zusammengestückelter Zitate bestimmte Gedankenmuster interpretiert und diese dann als rechte Weltbilder verkauft.
Man muss sich fragen: Warum bringen die Lederers und Co. so viel Energie auf, um jede Kritik am immer rabiater wütenden Kapitalismus zu unterbinden? Geht es ihnen nur um Verteidigung ihrer in der bürgerlichen Oberschicht eroberten Wohlfühlnische, also der eigenen, höchst persönlichen Identität? Wissen sie nicht, dass sie damit jeden Boden linken Urverständnisses vom Klassenkampf von unten verlassen haben?
Möglicherweise ist es den vielfältiger werdenden systemischen Widersprüchen geschuldet, wenn führende Köpfe und klassische Mitläufer sich in wirren Freund-Feind-Strukturen jenseits der real existierenden Klassen verstricken. Wenn sich ihre Ziele mehr und mehr auf Identitätspolitik einzelner Milieus reduzieren. Wenn sie den Überblick über Zusammenhänge verlieren und den Kampf gegen das rechte Imperium zu einem spießbürgerlichen Kampf gegen vermeintlich komische Gedankengänge verkommen lassen.
Möglicherweise freut man sich in gewissen staatlichen Denkfabriken über diese Entwicklungen nicht nur ein Loch in den Bauch, sondern befördert sie nach Leibeskräften. Aber he, alleine ein solcher Gedanke dürfte jemanden in gewissen Kreisen zum Verschwörungstheoretiker machen, böse belächelt, niedergemacht und für bekloppt erklärt von fast allen konservativen, liberalen wie linken Medien.Es ist, als würde eine staatstragende institutionelle Gedankenpolizei mit vielen Armen jemanden zum Aussätzigen erklären.
Was vergessen wird, sind tatsächlich gefährliche Entwicklungen hin zu autoritären kapitalistischen Staaten mit aufgerüsteter Polizei mit immer mehr Befugnissen, mit einem Militär, dass sich in immer tiefer in Angriffskriege verstrickt. Übersehen wird die wirkliche Rechts-Entwicklung, die sich in Parteien, Organisationen und Übergriffen auf ihre Opfer zeigt. Die Unschärfe in den Köpfen macht es möglich.
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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Artikels.
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