Tagesdosis 20.11.2017 – Das Establishment in der Krise

Ein Kommentar von Susan Bonath.

»Liebe Leserin, lieber Leser, seit vergangener Nacht befindet sich Deutschland in einer Regierungskrise.« Danke, Spiegel online, dass du als wichtige »Erziehungsinstanz« uns dies am frühen Montag morgen wissen ließest. Ja, die Krise – wir haben es mitbekommen: Jamaika ist geplatzt. Das ist echt dumm gelaufen für die Vertreter des konservativen Flügels des Establishments. Dumm gelaufen ist es auch für dessen olivgrünen Anhang, der jede Schweinerei mitmacht, um an begehrte Posten im bürgerlichen Staat zu gelangen.

Da stellte sich also um Mitternacht der politische Klassensprecher diverser Verbände von Konzernen und Finanzkapital, FDP-Chef Christian Linder, einfach hin, und kündigte Jamaika. Die C-Parteien seien ihm zu rückständig konservativ, die anderen hatten wohl zu viele wunderliche halbsoziale Forderungen im Gepäck. »Wir werden unsere Wähler nicht im Stich lassen«, posaunte Lindner in die Kameras. Die Gemeinten wissen Bescheid, Mövenpick und Co. lassen grüßen. Immerhin, man muss ihm zugute halten: Die Interessen der von ihm vertretenden Kapitalfraktionen hat er nicht verraten.

Es sei den Unterhändlern von CDU, CSU und Grünen zum Beispiel nicht gelungen, »eine gemeinsame Idee für die Modernisierung des Landes zu finden«, monierte Lindner. Wenn er das so ausspricht und man dabei an das Programm der FDP denkt, weiß man, was er meint:

Die FDP will weniger Steuern für Reiche und noch weniger Sozialstaat. Sie will in der NATO bleiben und die Bundeswehr aufrüsten. Sie will weniger Arbeitsrechte und noch mehr Unternehmerfreiheit, durchgesetzt mit mehr Polizei und Militär. Eine Mietpreisbremse will sie nicht und weiterhin kein Recht auf Wohnen. Die laut dem jüngsten Bericht der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe inzwischen knapp eine Million Obdachlosen im Land – Tendenz steigend – sollen bitteschön mehr Eigenverantwortung übernehmen. Slums in Stadtzentren zu errichten, bleibt allerdings verboten. Das stört das Lebensgefühl der »Leistungsträger«.

Der Ausstieg der Gelben sei »unverständlich«, monierte Grünen-Verhandlungsführer Jürgen Trittin. Seine Partei sei schließlich »bis an die Schmerzgrenze« gegangen. Neu ist das Überschreiten von Grenzen bei den Grünen fürs Mitregieren nun nicht, sei es bei ihrer Zustimmung für Kriegseinsätze in der Vergangenheit oder aktuell beim ad acta Legen sozialer Forderungen, wie die Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen.

Ja, es war ein theatralischer Abgang des einst mehrfach gescheiterten Jungunternehmers Linder. Man könnte meinen, er spekuliert auf noch mehr Prozente für die FDP bei Neuwahlen. Mit den Grünen geht es eben nicht. Zwar finden die den Kapitalismus wie Linder super. Zwar wollen die auch nicht die imperiale Kriegstreiberei, Ressourcenplünderung und die global wie national fortschreitende soziale Verelendung stoppen. Es gibt indes eine Nuance: Die Grünen wollen die mehr werdenden Opfer, also Flüchtlinge, nicht ganz so streng nach wirtschaftlicher Verwertbarkeit sortieren.

Nun jault das Establishment auf und die AfD reibt sich die Hände. Mit ihrer wirren Mischung aus christlich-konservativ-autoritärem Fundamentalismus, neoliberaler Reichenförderung – etwa durch Abschaffung der Erbschaftssteuer –, sozialchauvinistischer Armenunterdrückung – etwa durch Arbeitspflicht für Erwerbslose – und rassistisch-ethnischem Sortierungswahn ist die selbsternannte »Alternative für Deutschland« auf alle Fälle kompatibler als die Grünen für verschiedene, ans Ruder drängende Kapitalinteressen-Verbände.

Sich nun der AfD an den Hals zu werfen, wäre inhaltlich weder für die C-Parteien noch für die Liberalen ein Problem. Aber es wäre blöd für die Dauer-Demokratie-Show, die das Establishment der sogenannten Mittelschicht und allen, die sich dazu zählen wollen, weiter vorzuspielen gedenkt.

Der Spiegel bringt das Dilemma aus bürgerlicher Sicht theatralisch auf den Punkt: Die parlamentarische Demokratie befinde sich in der Krise, warnt das Blatt. Und: Eine solche Krise habe bereits »in vielen Ländern des Westens zu tiefgreifenden Umwälzungen des Parteiensystems geführt«. Nun habe diese auch den Exportweltmeister Deutschland erreicht. Das sei, bauschte Spiegel online auf, »der deutsche Brexit-Moment, der Trump-Moment«. Die staatspolitische Vernunft habe leider nicht gesiegt. Welch ein Jammer.

Das Establishment zittert: Kann die Demokratie mit einer Minderheitsregierung aus Union und FDP oder Union und Grünen gerettet werden? Würden Neuwahlen die AfD weiter stärken, die doch in Wahrheit nur die kleine radikalere Schwester der Union ist? Irgendwie muss die herrschende Klasse nun ihren Regierungsüberbau legitimieren. Sie muss dessen moralischen Anschein irgendwie wahren. Das dürfte schwerer für sie werden.

Vorsicht ist dennoch angesagt: Der Trend zu immer stärkerer autoritärer Unterdrückung der Lohnabhängigen ist weltweit längst im Gange. Er könnte sich nun auch in Deutschland radikal beschleunigen. Worin das in den 1930er Jahren mündete, ist in den Geschichtsbüchern nachzulesen. Und wie damals gilt: Die Klasse der Besitzenden bestimmt, wo es lang geht.

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Dank an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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