Ein Kommentar von Ernst Wolff.
Das vergangene Wochenende hat den unaufhaltsamen Zerfallsprozess der Europäischen Union einmal mehr an den Tag gelegt. In London wurde die inzwischen drei Jahre und fünf Monate zurückliegende Wahlentscheidung zugunsten eines Brexits ein weiteres Mal mit Hilfe parlamentarischer Winkelzüge missachtet. In Barcelona prügelten Polizisten des EU-Mitgliedes Spanien Dutzende von Menschen krankenhausreif, weil sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnahmen.
Enthüllend war auch die Art und Weise, mit der die Mainstream-Medien auf beide Ereignisse reagierten: Die Debatte im Londoner Parlament konnte auf verschiedensten Kanälen über Stunden live verfolgt werden und die Demonstration von EU-Befürwortern vor dem britischen Parlamentsgebäude wurde in allen Nachrichtensendungen ausführlich erwähnt.
Dass in Katalonien mehr als eine halbe Million Menschen demonstrierten, wurde nur am Rande erwähnt, und die brutalen Übergriffe der spanischen Polizei auf überwiegend jugendliche Demonstranten in Barcelona wurden schlichtweg übergangen.
Diese Art der Berichterstattung ist kein Wunder: Die öffentlich-rechtlichen Sender werden von der Politik kontrolliert, während die Privatsender sich im Besitz ultrareicher Familien befinden. Beide – sowohl Politiker als auch die Finanzelite – haben ein eminentes Interesse daran, die EU in ihrer gegenwärtigen Form zu erhalten, da sie jahrzehntelang von ihr profitiert haben und diesen Trumpf nicht freiwillig aus der Hand geben wollen.
Das allerdings wird immer schwieriger, da die Kluft zwischen beiden Gruppen und der arbeitenden Bevölkerung kontinuierlich zunimmt. Ursache dafür sind die Entwicklungen im Wirtschafts- und Finanzsektor, die die Wohlhabenden immer stärker begünstigen, während der Lebensstandard der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung entweder stagniert oder sinkt.
Da die meisten Menschen diese Zusammenhänge aber nicht durchschauen, ist es sowohl den Brexit-Befürwortern als auch den katalonischen Separatisten gelungen, eine große Anhängerschaft zu gewinnen, obwohl ihre rein nationalistischen Ziele – ein Austritt Großbritanniens aus der EU und eine Ablösung Kataloniens von Spanien – keines der bestehenden Probleme lösen werden.
Im Gegenteil: Die Folgen des Brexits oder einer möglichen Loslösung Kataloniens von Spanien würden von der Wirtschafts- und Finanzindustrie mit absoluter Sicherheit auf die arbeitende Bevölkerung abgewälzt werden.
Besonders absurd ist momentan die Situation in Großbritannien: Während ein Großteil der Wirtschafts- und Finanzelite den Brexit mit allen Mitteln zu verhindern sucht, haben mehrere Hedgefonds seit einiger Zeit eine Gegenposition bezogen und versuchen, aus dem Brexit Profit zu schlagen: Sie haben Boris Johnson in seiner Pro-Brexit-Kampagne unterstützt, auf den nach seiner Wahl tatsächlich eingetretenen Wertverfall des Pfundes gewettet und mittlerweile milliardenschwere Wetten auf einen Austritt Großbritanniens aus der EU zum 31. Oktober dieses Jahres abgeschlossen.
Ob ihre Strategie Erfolg haben wird, werden wir in wenigen Tagen wissen. Dass es überhaupt möglich ist, auf derartige Weise durch eine Kombination aus Wetten und politischer Manipulation Milliardengewinne zu erzielen, wirft ein bezeichnendes Licht auf den Zustand, in dem sich sowohl unser gegenwärtiges Wirtschafts- und Finanzsystem als auch die parlamentarische Demokratie befinden.
Was aber wäre dann die Lösung?
Die einzige Art, die Lebensverhältnisse der Bevölkerungsmehrheit in der EU zu verbessern, bestünde darin, die gegenwärtige allumfassende Herrschaft der Finanzgiganten – also in erster Linie der Großbanken und der Hedgefonds – zu beenden, das globale Wettcasino stillzulegen, die Steueroasen zu schließen, Steuer- und Erbschaftsgesetze zu ändern und den Finanzsektor wieder der Realwirtschaft unterzuordnen.
Erst wenn die Mehrheit der Menschen die Funktionsweise des gegenwärtigen Finanzwesens durchschaut, sich gewaltfrei, aber mit Nachdruck und vor allem über alle Landesgrenzen hinweg dagegen auflehnt, hat Europa eine Chance, zu einem Europa der Mehrheit zu werden und nicht noch weiter zum Spekulationsobjekt der gierigsten Teile der Finanzelite zu verkommen.
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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung.
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Bildhinweis: astonphoto / Shutterstock
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