Tagesdosis 23.11.2019 – Die Kosten der Kriege nach 9/11: 6.4 Billionen Dollar – 3.4 Millionen Tote

Ein Kommentar von Hermann Ploppa.

Am 13. November diesen Jahres ereignete sich mitten im Washingtoner Establishment eine Sternstunde der Wahrheit. Der demokratische Senator Jack Reed aus dem kleinsten US-Bundesstaat Rhode Islands hatte zwei Expertinnen von der Brown University aus seiner Heimatstadt Providence eingeladen. Neta Crawford und Catherine Lutz sind Ko-Direktorinnen des Cost of War-Projektes der Brown Universität. Sie konfrontierten das Washingtoner Establishment mit der nackten Tatsache, dass seit dem 11. September 2001 durch die Kriege der USA gegen den Terror schätzungsweise 801.000 Menschen in den Kriegshandlungen zu Tode gekommen sind. (1) 

Die Autorinnen stellten klar, dass damit nur die Kriegsopfer gezählt wurden, die direkt in Kriegshandlungen verwickelt waren. Die Zahl der Kriegstoten wäre um ein Vielfaches höher, wenn man noch jene Menschen hinzuzählt, die durch kriegsbedingte Zerstörungen der zivilen Infrastruktur keine angemessene ärztliche Hilfe erhalten haben. Die Kosten der nach dem 11. September 2001 durchgeführten Kriege schätzt Neta Crawford auf insgesamt 6.4 Billionen (amerikanisch: Trillions) Dollar. (2) 

Davon entfallen 5.4 Billionen auf die militärischen Einsätze in insgesamt sage und schreibe 80 Ländern, die die USA seit 2001 in ihre Kriege hineingezogen haben. Eine weitere Billion wird bis zum Jahre 2059 für die Versorgung der US-amerikanischen Kriegsveteranen aufgebracht werden müssen. Die Autorinnen legen Wert auf die Feststellung, dass diese Kriege den USA nicht aufgezwungen wurden, sondern willkürlich („by choice“) angezettelt wurden.

Und die Verantwortlichen an diesen ebenso überflüssigen wie buchstäblich ver-heerenden Kriegen sind außerordentlich geschickt, diese Kosten vor den Augen der Bevölkerung zu verbergen. Für das Haushaltsjahr 2018 hatte das US-Verteidigungsministerium den Menschen draußen im Lande mitgeteilt, die steuerliche Belastung durch die auswärtigen Kriege gegen den Terror weltweit betrage für jeden US-Bürger in jenem Jahr genau 7.623 Dollar. Das ist schon krass genug. Jedes Jahr für Kriege in Ländern, deren genaue Lage kaum ein US-Bürger benennen kann, ganz zu schweigen von den genauen Gründen, warum US-Soldaten dort hochbewaffnet agieren müssen, so viel auszugeben wie für einen gebrauchten Mittelklassewagen, ist schon schwer genug zu vermitteln. Unter anderem aus diesem Grunde nimmt die Ferne der Bürger zu ihrer Bundesregierung in Washington kontinuierlich zu. Aber, so Crawford, damit benennt das Pentagon ja nur die unmittelbaren Kosten für die Notfalloperationen (Overseas Contingency Operations) im Ausland. Aber die wirklichen Kosten, so weist Crawford penibel nach, verteilen sich auf alle möglichen Ministerien, insbesondere: Heimatschutzministerium, Außenministerium und, nicht zu vergessen, das in den USA sehr bedeutende Veteranenministerium. Wenn man das alles zusammenrechnet, kommt schon pro Jahr ein fabrikneuer Mittelklassewagen für jeden US-Bürger zusammen.

Es hat der Krieg der USA gegen den Rest der Welt seit dem 11. September 2001 eine radikal neue Qualität angenommen. Die früheren US-Kriege wurden durch Steuererhöhungen und durch die Ausgabe von Kriegsanleihen finanziert. Steuererhöhungen sind bei den Bürgern der USA extrem unbeliebt. Das ist einer der Hauptgründe für das Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen wie der Tea Party, deren Anhänger den Staat am liebsten gleich ganz abschaffen und das Establishment von Washington direkt auf den Mond schießen würden. Vielleicht wäre George Bush II. sehr schnell gescheitert, wenn er den US-Bürgern neue Steuerlasten für die ebenso sinnlosen wie ruinösen Kriege in der weiten Welt auferlegt hätte. Darum griffen Bush und seine Souffleure Rumsfeld und Cheney auf das Mittel der extremen Staatsverschuldung zurück. Man kann über Bushs Vorgänger Bill Clinton viele nicht so nette Dinge sagen. Aber er hatte nicht nur den Staatshaushalt der USA von Schulden befreit. Als er das Amt an Bush abgab, wies der Staatshaushalt ein fettes Plus aus. Die künstliche und hemmungslose Staatsverschuldung hat für die Finanzszene einen unwiderstehlichen Charme. Denn jetzt ist der Staat USA mitsamt seinen Bürgern in knochentiefe Zinsknechtschaft der privaten Banken gesunken. Und das lohnt sich. Denn wie Crawford ausführt, trägt alleine der Schuldendienst der US-Kriegsmaschinerie seit 2001 mit 925 Milliarden Dollar zu den Gesamtkosten des Global War on Terror bei. Und, so die Autorin weiter: selbst wenn die USA von heute auf gestern aus dem weltweiten Antiterrorkrieg aussteigen würden, kämen sie kostenmäßig aus der Nummer noch für Generationen nicht heraus. Der Schuldendienst für Zins und Zinseszins bleibt erhalten. Und ebenso die Nachsorge für die verstümmelten und schwer traumatisierten US-Soldaten – bis zu deren Ableben.

Damit kommen wir zu den körperlichen und seelischen Kosten des GWOT, wie die Amerikaner in ihrer Abkürzungswut den Global War on Terror nennen. Und zu den infrastrukturellen Folgen. Die Brown Universität in Providence, übrigens eine der ältesten und ehrwürdigsten Universitäten der USA, beziffert die Todesopfer mit 801.000 Menschen, nur im direkten Kampf. Und sie schätzen, wiederholen wir das noch mal, dass die Zahl der durch Infrastrukturzerstörungen verursachten Todesfälle „um einiges höher“ liegt. Das ist auch im Washingtoner Polit-Orbit durchaus angekommen. Denn an jenem 13. November der ungeschminkten Wahrheiten sprach Neta Crawford  am Nachmittag auch noch vor dem Congressional Progressive Caucus, einer Gruppe von Kongressabgeordneten beider Häuser aus der demokratischen Partei, deren Mitglieder das Pentagon-Propagandainstrument Wikipedia als „Antisemiten“ diffamiert. (3) Die Professorin aus Rhode Island stellte dort ein Papier vor, das die Umweltzerstörung durch den GWOT zum Thema hat. (4)

Die progressiven Kongressabgeordneten bemühen sich schon lange darum, soziale Gerechtigkeit, Friedenspolitik und Berücksichtigung der Minderheiten in die Politik einzubringen. Zum Umfeld der Nachdenklichen gehört auch die Online-Zeitung The Hill. The Hill spielt an auf den Capitol Hill, den Hügel, auf dem das Gebäude des Washingtoner Kongresses Capitol steht. Man will insbesondere die Abgeordneten und deren Mitarbeiterstäbe beeinflussen. Und so erschien in The Hill am selben 13. November ein bemerkenswerter, für amerikanische Verhältnisse ungewöhnlich einfühlsamer Artikel über die Leiden der weltweiten Opfer des GWOT: „Die Kosten des Krieges in Rechnung stellen: es ist Zeit (endlich) Verantwortung zu übernehmen“. (5) 

Hier wird ausführlich berichtet, welche gigantischen Folgen der Krieg auf die Bevölkerung der USA hat: „Über die gesamte USA sind Millionen Menschen betroffen, der kollektive Schaden ist kaum noch darstellbar.“ Ein Fünftel aller Kriegsveteranen aus den nach-9/11-Kriegen leidet unter posttraumatischen Störungen – in Zahlen ausgedrückt: 400.000 bedauernswerte US-Bürger. Zudem hat die Selbstmordrate bei Veteranen enorm zugenommen. So sterben heute mehr GIs durch Selbstmord als durch Kampfhandlungen. Kriegsheimkehrer wenden öfter Gewalt gegen ihre Familienmitglieder an als andere Mitbürger, und sie werden öfter straffällig und viele von ihnen enden obdachlos auf der Straße. (6)

Doch noch weitaus größer sind die Verstörungen bei den Menschen in den vom Monster GWOT ruinierten Ländern. Darüber berichtet Anna Badkhen sehr anschaulich und einfühlsam ausgerechnet im zweiten Zentralorgan des Council on Foreign Relations (7), den Foreign Politics (8) bereits im Jahre 2012. Badhken referiert einen Untersuchungsbericht im Auftrag der US-Regierung. Demzufolge waren im Jahre 2002, also als die USA gerade erst „loslegten“ mit ihrem Krieg gegen den Terror, 42% der Afghanen bereits mit posttraumatischer Verstörung auffällig geworden. Und über zwei Drittel der Afghanen litten unter schweren Depressionen. Zwischen 30% und 70% der Menschen in Ländern, wo der Militärisch-Industrielle Komplex seinen Krieg gegen den Terror austobt, „tragen die Narben posttraumatischer Verstörung und Depressionen“. Seit 9/11 hat sich ein Trend radikalisiert, der schon vorher erkennbar war. Im Ersten Weltkrieg wurde der Krieg noch in speziellen Zonen ausgetragen, nämlich z.B. in den Schützengräben Nordfrankreichs. Die Zivilbevölkerung blieb weitgehend von Kampfhandlungen verschont. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Zivilbevölkerung durch Bombardierungen schon viel stärker in die Kämpfe einbezogen. „Aber nach annähernd 50 Jahren Kalten Krieg und 10 Jahren Krieg gegen den Terror ist der Krieg, den wir führen, persönlicher geworden. Die terroristischen Schlachtfelder kennen keine Frontlinien. Garstige Konfessionskriege bringen Nachbarn gegen Nachbarn auf. Opfer der Völkermordkampagnen kennen ihren Peiniger oft beim Namen. Man nimmt an, dass in den jüngsten kriegerischen Auseinandersetzungen mindestens neun von zehn Kriegsopfern Zivilisten sind.“ Es gibt ja auch keinen „Marshall-Plan“, nach dem die in Grund und Boden zerstörten Städte und Dörfer und Äcker wieder aufgebaut werden könnten. So gab es für die seelisch ruinierten Afghanen gerade einmal 200 mehr schlechte als rechte Betten in psychiatrischen Anstalten im Jahre 2012.

Und die Zeitung The Hill redet den Kongressabgeordneten ins Gewissen: nicht nur, dass jeder fünfte Iraker unter schweren psychischen Störungen leidet. Bei der Jugend sieht es noch weitaus schlimmer aus; 56% der Youngster leiden unter posttraumatischer Verstörung. Und 12.5 Millionen Menschen aus Irak, Afghanistan, Pakistan und Jemen sind auf der Flucht vor dem Kriegsgemetzel in ihrer Heimat. The Hill: „Haben wir nicht die Verpflichtung, uns auseinanderzusetzen mit unserer individuellen und kollektiven Verantwortung für die Zerstörung, die unsere Regierung angerichtet hat? Unsere Steuergelder und unser stilles Einverständnis haben diese Kriege überhaupt erst möglich gemacht. Während die USA offensichtlich nicht der einzige Akteur sind, der verantwortlich zeichnet für den Schaden, den die Kriege nach 9/11 angerichtet haben, tragen allerdings die Führer der USA die Hauptverantwortung, katastrophale Kriege angezettelt zu haben, die in keinem einzigen Falle unausweichlich waren, sondern das Ergebnis bewusster Entscheidungen darstellen.“

Dringend überfällige Einsichten aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Es darf wie immer bezweifelt werden, ob diese Stimmen der Vernunft irgendeine Chance haben, das Ruder in Washington noch herumzureißen, bevor es zur großen Implosion kommt. 

Autor Hermann Ploppa hat gerade sein neuestes Buch „Der Griff nach Eurasien – Die Hintergründe des ewigen Krieges gegen Russland“ veröffentlicht, das direkt beim Autor bezogen werden kann: liepsenverlag@gmail.com. 

Quellen:

  1.  https://watson.brown.edu/costsofwar/files/cow/imce/papers/2019/Direct%20War%20Deaths%20COW%20Estimate%20November%2013%202019%20FINAL.pdf
  2. https://watson.brown.edu/costsofwar/files/cow/imce/papers/2019/US%20Budgetary%20Costs%20of%20Wars%20November%202019.pdf
  3. https://de.wikipedia.org/wiki/Keith_Ellison
  4. https://watson.brown.edu/costsofwar/files/cow/imce/papers/Pentagon%20Fuel%20Use%2C%20Climate%20Change%20and%20the%20Costs%20of%20War%20Revised%20November%202019%20Crawford.pdf
  5. https://thehill.com/opinion/national-security/470128-reckoning-with-the-costs-of-war-its-time-to-take-responsibility
  6. https://www.youtube.com/watch?v=o9zRQijCN5w
  7. https://www.heise.de/tp/features/Der-Klub-der-Weisen-Maenner-3419681.html
  8. https://foreignpolicy.com/2012/08/13/ptsdland/

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung.

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