Ein Kommentar von Ernst Wolff.
Taschendiebe lieben Großveranstaltungen. Während sich die Aufmerksamkeit der Menschenmenge auf Künstler oder Sportler richtet, können sie ihren Opfern unerkannt auf den Leib rücken und in aller Ruhe ihrem Gewerbe nachgehen.
Taschendiebe sind allerdings nicht die einzige Berufsgruppe, die Großveranstaltungen zum eigenen Vorteil nutzt. Wie die vergangene Woche einmal mehr gezeigt hat, bekommen sie bei Fußballweltmeisterschaften Konkurrenz aus einem Lager, das die Abgelenktheit seiner Opfer beim Griff in deren Taschen ebenfalls zu schätzen weiß – der Politik.
Während die WM in Russland bereits einige Tage vor ihrem offiziellen Start die Medien zu beherrschen begann, brachten CDU/CSU und SPD einen Gesetzesentwurf in den Bundestag ein, dem zufolge alle Parteien ab 2019 25 Millionen Euro mehr aus Steuergeldern bekommen sollen – 190 statt 165 Millionen Euro. Genau eine Woche später – die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung befand sich bereits im Fußballfieber – wurde das Gesetz von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt verabschiedet.
Hauptnutznießerin der neuen Regelung ist die SPD, deren schlechtes Abschneiden im letzten Wahlkampf ihr zukünftig eigentlich geringere Einnahmen aus der staatlichen Parteienfinanzierung beschert hätte. Diesen Verlust aber glich sie durch einen Griff in die Taschen der Steuerzahler nicht nur aus, sondern nutzte die Gelegenheit gleich dazu, die Summe für sich und andere kräftig aufzustocken – in trauter Eintracht mit ihren Koalitionspartnern CDU und CSU und auch zum Vorteil aller anderen im Bundestag vertretenen Parteien.
Begleitet wurde das in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommene Schauspiel durch ein kurzes Aufbegehren der Opposition, die sich als Hüter der Moral aufspielte und die „Selbstbedienungsmentalität“ der Regierenden anprangerte. Wer jedoch damit rechnete, dass auch nur einer der ebenfalls von den Geldern profitierenden Kritiker die Konsequenz aus seiner Empörung ziehen und die Zahlungen nicht annehmen oder gar für soziale Zwecke spenden würde, wartete vergebens.
Das Verhalten der Bundestagspolitiker hat übrigens Tradition, auch wenn es nicht immer nur um den eigenen Vorteil, sondern gelegentlich auch zur Durchsetzung von Vorhaben geht, die in der Bevölkerung umstritten sind. Hier ein paar Beispiele:
Während der Fußball-WM 2006 beschloss die damals regierende Große Koalition aus Union und SPD die bisher kräftigste Erhöhung des regulären Mehrwertsteuersatzes in der Geschichte der Bundesrepublik von 16 auf 19 Prozent.
Bei der Fußball-WM 2010 winkte die Koalition aus CDU/CSU und FDP eine Anhebung des Krankenkassenbeitrags von 14,9 auf 15,5 Prozent durch – nur einen Tag, nachdem die Erhöhung im Kanzleramt beschlossen worden war.
Die WM 2014 schließlich wurde von den Abgeordneten genutzt, um eine Reform der Lebensversicherungen auf den Weg zu bringen, die für die Versicherten deutlich höhere Beiträge nach sich zog.
Einmal allerdings mussten die Abgeordneten auch einen Rückschlag hinnehmen: Während der Fußball-EM 2012 verabschiedeten ganze dreißig im Bundestag anwesende Abgeordnete am Abend des EM-Halbfinals zwischen Deutschland und Italien ein Gesetz, das es Behörden erlaubte, persönliche Daten auch ohne Zustimmung der Bürger an Adresshändler zu verkaufen.
Wenig später allerdings kassierte der Bundesrat das Gesetz wieder ein. Aber nicht etwa aus Empörung darüber, dass die zweite und dritte Lesung zusammen nicht einmal eine volle Minute gedauert hatten, sondern … weil die entscheidenden 58 Sekunden von einem Besucher auf Video aufgenommen und ins Netz gestellt worden waren, wo sie sich zum viralen Hit entwickelten.
Ende Juni und Anfang Juli – also in der heißen Phase der laufenden Fußball-WM – tritt der Bundestag noch zu zwei Sitzungen zusammen. Die Tagesordnungen dafür stehen noch nicht fest, aber man darf wohl davon ausgehen, dass sowohl Politiker als auch Taschendiebe sehr aufmerksam registrieren werden, wie weit es die deutsche Elf im Turnier bringt und wie groß das Interesse der Bevölkerung an der WM dann noch ist.
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