Ein Kommentar von Hermann Ploppa.
Diese Woche kam es wieder einmal zu einem vorgerichtlichen Vergleich in den USA. Dort sind ja so genannte Sammelklagen möglich. Das heißt: wenn viele Tausend Amerikaner einen Schaden erlitten haben, dann können sie alle vereint gegen den Verursacher des Schadens klagen. Dabei kann es um astronomische Summen gehen. Im aktuellen Fall klagten zwei Verwaltungsbezirke im US-Bundesstaat Ohio gegen drei Pharma-Großhändler (1). Streitwert: 48 Milliarden Dollar. Und die Frage ist, ob man den erlittenen Schaden, der an unbescholtenen US-Bürgern verübt worden ist, überhaupt mit Geld allein wieder gutmachen kann. Denn die legalen Pillen-Dealer tragen eine Mitschuld an dem Tod von 400.000 Menschen in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Käufer der Droge Oxycontin waren süchtig geworden. Zudem hatte Oxycontin die Atmung gelähmt und die Menschen waren elend erstickt. Man schätzt, dass in den USA aktuell 95 Millionen Menschen regelmäßig Schmerzmittel einnehmen, also beinahe ein Drittel aller US-Bürger. Und 2.7 Millionen Menschen gelten als süchtig nach den legalen Pillen. Mittlerweile müssen schon Großeltern die Aufzucht der Enkelkinder übernehmen, weil ihre Kinder aufgrund der Drogensucht zur Kindererziehung nicht mehr in der Lage sind (2). Die Pillensucht überfordert die Notdienste ganzer Regionen, wie die in den USA eigentlich sehr gewogene Wochenzeitung ‘Die Zeit’ zu berichten weiß:
„Vielerorts können Notärzte nicht mehr schnell genug auf die Vielzahl an Anrufen reagieren; in Ohio müssen die Opfer einer Überdosis inzwischen immer wieder in gekühlten Wohnwagen gelagert werden, weil die Leichenhallen überfüllt sind.“ (3)
Nun, in der hier verhandelten Sammelklage einigte man sich diese Woche darauf, das Verfahren einzustellen. Statt der 48 Milliarden Dollar zahlen die drei Pillengroßhändler an die Geschädigten freiwillig eine Summe von 260 Millionen US-Dollar. Sie tun dies und legen Wert auf die Feststellung, dass sie keinerlei Schuld am Massenmord an ihren Kunden anerkennen werden. Folglich wird auch kein Strafverfahren gegen die Top-Manager dieser Händler des Todes eröffnet. Der vorgerichtliche Vergleich ist eine schwere Niederlage für die Angehörigen der Opfer. Denn ein erklecklicher Teil der erstrittenen Summe von 260 Millionen Dollar wird in den Taschen der Rechtsanwälte beider Seiten versickern. Für die legalen Drogendealer ist der Betrag kein Aderlass, sondern höchstens ein kleiner Blutabstrich. Es sollen noch weitere Sammelklagen von insgesamt 2.700 betroffenen Gemeinden in den USA folgen. Es ist zu befürchten, dass diese Klagen ebenfalls ohne Konsequenzen für die Mörder im Nadelstreifen bleiben werden.
Es geht um eine der schwersten inneren Krisen, die die USA jemals durchgemacht haben. Die Opioid-Krise. Und es betrifft diesmal nicht in erster Linie die diskriminierten Minderheiten der schwarzen Community oder der hispanischen Bevölkerung. Im Nordosten der USA schlucken immer mehr Menschen aus der weißen Mittelschicht und aus dem ärmeren Segment der weißen Bevölkerung das Schmerzmittel Oxycontin. Es handelt sich um ein Präparat, bei dem natürliche Mohnsubstanzen chemisch manipuliert werden und das eine große Ähnlichkeit mit Heroin aufweist. Erfunden wurde es in Deutschland. Die Firma Merck brachte es in den 1920er Jahren gewinnbringend als Eukodal auf den Markt. Adolf Hitler bekam es von seinem Leibarzt Morell im Zweiten Weltkrieg verabreicht, damit die sich abzeichnende Niederlage dem Führer nicht ganz so wehtat. In den USA entdeckte die Sackler-Familie das Potential und vermarktete Eukodal. Die Sacklers verdienten sich eine goldene Nase damit. Gekaufte Mediziner schrieben in den 1990er Jahren Artikel in Fachzeitschriften. Sie behaupteten, die Anwendung des extrem starken Schmerzmittels bei Todkranken in Hospizen habe gezeigt, dass nur die wenigsten Moribunden nach Oxycontin süchtig geworden seien. Man könne das Suchtpotential vernachlässigen. Eine massenhafte Verschreibung selbst bei geringen Schmerzen durch Hausärzte war die Folge. Die Patienten gerieten massenhaft in eine Abhängigkeit und verlangten nach immer mehr Oxycontin. Kliniken, so genannte „Pillenschleudern“, verschrieben Oxycontin äußerst bereitwillig für einen Aufpreis von 100 bis 400 Dollar je Rezept. Die angeblichen Schmerzpatienten verhökerten nun die begehrten Pillen auf dem Schwarzen Markt für 100 Dollar. Um den Flash zu beschleunigen, lösen die Endverbraucher die gefährliche Pille in Wasser auf.
Der Konsum von Oxycontin wurde gerade im Nordosten der USA zur Epidemie. Gerade in jenen Gegenden, wo dereinst eine Industrie blühte, die dann nach China abwanderte, grassiert die Opioid-Seuche. Einstige Auto-Metropolen wie Detroit sehen heute streckenweise aus wie Deutschland nach Bombenangriffen. Die Trostlosigkeit muss betäubt werden. Und selbst wo Arbeitskräfte dringend gesucht werden, finden die Unternehmer keine geeigneten Mitarbeiter mehr. In den USA müssen sich Bewerber, um den Job zu bekommen, einer Blutentnahme unterziehen. Dabei wird geschaut, ob die potentiellen Mitarbeiter drogensüchtig sind. Und bei einem Viertel aller Bewerber wurden Reste von Opioiden gefunden. Sie sind „zu High zum Arbeiten“, wie die Zeit einen Artikel betitelte (3). Die Opioid-Seuche trifft die USA ins Mark. Die Versicherungswirtschaft schätzt den Schaden durch die legalen und auch die illegalen Drogen in den Jahren 2015 bis 2018 auf 631 Milliarden Dollar. Und eine Studie der Brookings Institution spricht von einer „Verzweiflungsspirale“ (4) und einem volkswirtschaftlichen Schaden in Höhe von 500 Milliarden Dollar. Diese Studie hat ermittelt, dass die Lebenserwartung von weißen Männern mittleren Lebensalters seit Ausbruch der Opioid-Seuche kontinuierlich sinkt, während sie in Europa weiter ansteigt.
Ein hohes Maß an Leiden in der Bevölkerung wird schon lange von den Politikern billigend in Kauf genommen. Prominente Mediziner zu bestechen, damit sie Gefälligkeitsgutachten und Gefälligkeitsartikel für ein saftiges Honorar schreiben über extrem ungesunde Substanzen, hat in den USA Tradition. In den 1920er Jahren hatte der Public-Relations-Unternehmer Edward Bernays Medizinprofessoren eingekauft, damit diese die gesundheitliche Unbedenklichkeit des Zigarettenkonsums bescheinigten (5). Erst in den 1990er Jahren wurde die Zigarettenindustrie in Sammelklagen massiv zur Ader gelassen mit milliardenschweren Schadensersatzurteilen.
Doch nicht nur Koryphäen der Wissenschaft können korrumpiert werden. Jetzt kommt nämlich zu der Katastrophe mit den legalen Opioiden noch der Vormarsch des Organisierten Verbrechens hinzu. Das fand bereits in den 1980er Jahren seinen beredten Ausdruck durch die Iran-Contra-Affäre. Damals war der Kongress in Washington nicht bereit, Gelder für die paramilitärische Terrortruppe der Contras, die das friedliche Nicaragua zermürbten, bereitzustellen. Der Geheimdienst CIA kam auf die Idee, das fehlende Geld durch Drogenhandel aufzutreiben. Die Contras kauften Kokain bei kolumbianischen Drogenkartellen, und die CIA übernahm die Vermarktung des weißen Pulvers in den Großstädten der USA. Aus dem Gewinn konnten die Contras Waffen kaufen. Das Kokain wurde verarbeitet zur extrem gefährlichen Droge Crack. Crack gelangte bevorzugt in die Stadtteile der Afroamerikaner und führte dort zu einem dramatischen Zerfall des sozialen Zusammenhalts. Als der Journalist Gary Webb diese Zusammenhänge minutiös und unwiderleglich in den 1990er Jahren aufdeckte, wurde er recht bald in seiner Wohnung erschossen aufgefunden.
Seitdem in den USA die Verschreibung von Oxycontin nun etwas zurückhaltender gehandhabt wird, überschwemmen Massen von Heroin das Land. Heroin-Portionen kosten zwischen 5 und 10 Dollar, und der Stoff ist viel reiner als früher. Je weniger Oxycontin auf dem Markt erscheint, umso mehr nehmen die von der Pharmaindustrie Angefixten Heroin. Seit dem Überfall der USA auf Afghanistan im Jahre 2001 blühen dort wieder die Mohnfelder, die unter den Taliban vernichtet wurden. Der Handel mit Heroin erlebt seitdem einen neuen Aufschwung. Es ist eine seltsame Symbiose von Militärpräsenz und Organisiertem Verbrechen in Afghanistan und auch im Kosovo feststellbar. Beide Orte befinden sich im festen Griff der NATO-Truppen, und in deren Windschatten blüht und gedeiht die organisierte Kriminalität.
Die Drogensucht hat derart dramatische Auswirkungen, dass 2014 der Gouverneur des Bundesstaates Vermont, Pete Shumlin, seine Rede zur Lage des Bundesstaates ausschließlich der Heroinepidemie gewidmet hat (6). Er sagte: „In jedem Winkel unseres Staates bedrohen uns Heroin- und Opiat-Abhängigkeiten … Was als Problem mit Oxycontin und anderen verschreibungspflichtigen Medikamenten in Vermont begann, hat sich zu einer ausgewachsenen Heroinkrise entwickelt.” Im Jahre 2017 erklärte der neue US-Präsident Donald Trump aufgrund der Sucht-Epidemie in seinem Land den nationalen Notstand. Passiert ist indes relativ wenig. Der Washingtoner Kongress hat daraufhin 6 Milliarden Dollar zur Bekämpfung der Epidemie lockergemacht. Wo das Geld versickert ist, wissen wir nicht. Die Lage hat sich jedenfalls seitdem weiter verschlimmert. Denn die ständig wachsende Nachfrage nach Schmerzstillern kann selbst mit neuen Rekordleistungen in der Heroinproduktion nicht mehr befriedigt werden. Deshalb werfen die Dealer jetzt das vollsynthetische Opioid Fentanyl massenhaft auf den Markt. Kürzlich erst entdeckten Fahnder 30 Kilogramm Fentanyl. Grund genug für das Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel, die Volksrepublik China indirekt als Großdealer der neuen Todesdroge zu verdächtigen (7).
Und auch Deutschland ist nicht vor den Gefahren einer im rasanten Tempo korrupter gewordenen „Gesundheitsindustrie“ gefeit. Die Zeitschrift Spektrum (8) weist darauf hin, dass Ableger der US-Pharmakonzerne bereits dabei sind, den deutschen Markt zu erobern und nimmt dabei besonders den Konzern Mundipharma ins Visier. Der Konzern finanziert „einflussreiche Kampagnen, etwa ‚Schmerzfreie Stadt Münster‘ oder ‚Schmerzfreies Krankenhaus‘ – mit dem Ziel, Ärzte zu schulen oder Kliniken zu zertifizieren. US-Kongressabgeordnete wandten sich 2017 in einem eindringlichen Schreiben an die damalige WHO-Generaldirektorin Margaret Chan. Sie warnten vor einer Globalisierung der Opioid-Krise: ‚Mundipharma benutzt heute viele derselben täuschenden und rücksichtslosen Praktiken, um Oxycontin im Ausland zu verkaufen‘, heißt es in dem Brief.“
Ganz neu sind solche Bestrebungen auch nicht mehr. Umstritten ist der Einsatz des Medikaments Ritalin bei kleinen Kindern. Noch ist allerdings die Privatisierung und Deregulierung des Gesundheitswesens in Deutschland nicht so weit vorangeschritten, dass solche Exzesse wie mit den Opioiden in den USA bei uns möglich sind. Die Öffentlichkeit sollte allerdings keine Toleranz üben, sobald sich auch nur die leisesten Anzeichen einer solchen Entwicklung wie in den USA zeigen.
Quellen:
(3) https://www.zeit.de/wirtschaft/2017-08/sucht-usa-schmerzmittel-opioide-abhaengigkeit
(4) https://www.brookings.edu/wp-content/uploads/2017/03/6_casedeaton.pdf
(5) https://usacontrol.wordpress.com/2008/07/21/edward-bernays-der-vater-der-massenmanipulation/
(6) https://www.sueddeutsche.de/panorama/alltagsdroge-heroin-opium-fuers-volk-1.1879989-2
(8) https://www.spektrum.de/wissen/5-fakten-zur-opioid-krise-in-den-usa/1544581
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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung.
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Bildhinweis: Scotyard / Shutterstock
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