Ein Kommentar von Susan Bonath.
Wer hätte das vor 28 Jahren gedacht: Im vereinten Deutschland des Jahres 2018 kloppen sich Abgehängte um Essensreste: Wer darf die von der Bourgeoisie mildtätig unter den Tisch geworfenen Krümel und abgenagten Knochen aufsammeln? Es tobt der Konkurrenzkampf um abgelaufene Lebensmittel, von Supermärkten zur billigen Entsorgung und kostenlosen Imagewerbung in karitative Tafelhände gegeben. An der Praxis der Tafel in Essen entzünden sich nun moralinsauer politische Gemüter. Sie versagt Flüchtlingen die Essensspenden, weil, lax gesagt, die verarmte deutsche Oma sonst nicht genug bekomme.
Die Tafel in der Ruhrmetropole ist dabei nur ein Aufhänger. So duldet beispielsweise die Essensausgabe im niederbayrischen Zwiesel nur noch 15 ausgewählte Flüchtlingsfamilien neben ihren deutschen Bedürftigen. Und diese, berichtete der Bayrische Rundfunk vergangene Woche, kommen grundsätzlich zuletzt, also nach den deutschen Bedürftigen, an die Reihe. Sie bekommen also sprichwörtlich die Reste der Reste, um, wie es heißt, Neid zu vermeiden. Bei anderen Tafeln gilt seit Monaten ein Aufnahmestopp für jegliche Betroffene. Im nordrhein-westfälischen Lünen etwa wird das seit einem Jahr praktiziert. Lange Wartelisten gibt es auch in Gummersbach, im mecklenburgischen Stralsund und vielen anderen Orten. Es geht um die bürokratische Reihenfolge und die richtige Hautfarbe, nicht um extreme Notlagen, schon gar nicht um Hunger.
Springers Welt online findet das völlig in Ordnung. Die alleinerziehende deutsche Mutter samt Nachwuchs und der deutsche Rentner dürften natürlich nicht hungern, der »junge kräftige Ausländer« hingegen schon, schreibt das bekannte Hetzblatt sinngemäß. Immerhin hätten erstere schon erfolgreich die Obdachlosen verdrängt, für welche die Tafeln zuerst gedacht waren. Die naserümpfenden Blicke armer Mütter und Rentner hätten sie vertrieben. Wer, so ergießt sich Welt-Autor Torsten Krauel, wolle schon dort landen, wo die Straßenpenner sind? Außerdem, führt er aus, sei die Essener Tafel wie alle Tafeln ein Privatverein. Der dürfe tun und lassen, was er wolle. Ja, darf er.
Zeitungsschreiber ereifern sich zu Kommentaren – mal moralinsauer, mal rigoros, immer irgendwie pervers. In den Kommentarspalten tritt maßlose gesellschaftliche Verrohung zu Tage. Die üblichen Floskeln überschäumender Wutbürger ergießen sich wie Flutwellen ins Netz: DIE haben alle ein Handy, kriegen eine Wohnung und »alles in den Arsch geblasen«, schreit der Mob. Von Fakten will da niemand mehr was wissen: Zum Beispiel, dass die oft über Jahre in spartanisch eingerichteten Mehrbettzimmern hausenden, nicht arbeiten dürfenden Asylbewerber tatsächlich je nach Alter bis zu 63 Euro weniger bekommen als Hartz-IV-Bezieher. Und dass nur einer an diesen Menschen mit oft schweren Schicksalen verdient: Die Armutsindustrie, wie Heimbetreiber, Immobilienbesitzer und Securityunternehmen.
An Perversion kaum zu überbieten ist auch das Statement von Familienministerin Katarina Barley. Es müsse nach Bedürftigkeit und nicht nach Nationalität gehen, forderte sie gegenüber der Presse. Das ist pure Heuchelei: War es doch die Partei der SPD-Politikerin, die gemeinsam mit CDU, CSU, FDP und den Grünen Hartz IV inklusive Sanktionsapparat eingeführt und ständig verschärft, die Renten gekürzt und die Vermögenssteuer abgeschafft hat! Es war doch die SPD, die wie alle anderen – außer der Linkspartei – für Aufrüstung und imperialistische Kriegseinsätze gestimmt und so für Millionen Menschen gesorgt hat, die aus Mangel an Überlebensperspektiven erst flüchten mussten.
Ist es etwa nicht Barleys SPD, die stets gemeinsam mit CDU, CSU, FDP und nun auch der AfD eisern auf der Seite der imperialen NATO-Politik und jener Konzerne steht, die sowohl die wachsende Armut als auch die Flüchtlingskrise gleichermaßen verursachen?
Und wer die Spaltung der Ärmsten nun gut und richtig findet, gehört in der Regel nicht zu jenen, die bisher durch ein Herz für verarmte Deutsche aufgefallen sind. Im Gegenteil: Die Debatten aus der Zeit vor der Flüchtlingskrise über »faule« Erwerbslose und »Sozialschmarotzer«, die alle »selbst schuld« seien, klingeln noch genauso in den Ohren, wie die verlogene Parole aus konservativen, liberalen und christlich-religiösen Kreisen, wonach in Deutschland schließlich niemand verhungern müsse.
Es ist so, wie meine Freundin Heidi Langer kürzlich schrieb: Wenn es um Flüchtlinge geht, blöken sie, das Geld solle man besser für deutsche Obdachlose aufwenden. Geht es um Obdachlose, von denen in der Bundesrepublik inzwischen fast eine Million leben, keifen sie: »Niemand muss hier obdachlos sein, es gibt doch Hartz IV!« Geht es um Hartz-IV-Abhängige, pöbeln sie: »Warum gehen die faulen Schweine nicht arbeiten!« Geht es um Niedriglöhner, toben sie: »Selber schuld, warum haben die nichts Anständiges gelernt!« Und die Flaschen sammelnde Rentnerin hätte eben, statt ihre Kinder großzuziehen und die alten Eltern zu pflegen, arbeiten gehen sollen, die faule Alte. Und wenn die Pöbler dann plötzlich selbst ins Hartz-IV-System fallen, jammern sie über die bodenlose Frechheit, SIE mit all den »Assis« in einen Topf zu werfen.
Auf der anderen Seite lehnt man sich derweil bei Champagner und Kaviar leger zurück. Weder das deutsche noch das internationale Kapital interessiert es einen feuchten Kehricht, welche Nationalität auf dem Pass eines Abgehängten oder gar Hungernden steht. Immerhin sterben jeden Tag mehr als 30.000 Menschen, darunter Tausende Kleinkinder und Babys, an Unterernährung. Das juckt die Schmarotzer da oben nicht.
Die Tafeln sind schlechthin ein Konstrukt privatisierter Armenfürsorge. An die Essensreste zu kommen, bleibt Glücksache und abhängig von privater Mildtätigkeit. Die Tafeln ermöglichten es der Propaganda- und Exekutivabteilung der Herrschenden, den Sozialstaat ohne größeren Aufstand zu schrumpfen.
Die Tafeln sind ein Teil des Systems der penetranten Unterwerfung. Das fängt bei Hartz IV an. Wer nicht gehorcht, dem sanktionieren Jobcenter Essen und Obdach weg. Wer hungert und friert, bekommt nur mit bürokratischem Aufwand, ausreichend Wohlverhalten und meist erst nach Monaten, einen Zugang zu den sprichwörtlichen Krümeln unterm Tisch. Nicht umsonst steht auf Containern, also das Sammeln weggeworfener Lebensmitteln direkt aus Mülltonnen von Supermärkten, als Diebstahl unter Strafe.
Ich bin sicher: Irgendwo auf schwarzen Ledersesseln sitzen ein paar millionenschwere McKinsey-Berater und reiben sich vor Lachen die satten Bäuche. Immerhin war es dieser global agierende Think Tank, der ab Mitte der 1990er Jahre die Tafeln mit eigens abbestellten Mitarbeitern zu einem karitativen Almosenkonzern für billige Reste-Entsorgung aufpumpte. Es war auch das Unternehmen McKinsey, das im selben Atemzug Hartz IV mit erdachte und sogar frech das Ziel ausposaunte: Europas größten Niedriglohnsektor im Exportweltmeisterland zu etablieren – im Auftrag der Bundesregierung.
Ja, der Konkurrenzkampf tobt auch um Wohlstandsabfällle. Wenigstens kommt so kaum jemand auf die Idee, zu hinterfragen: Wer produziert und wem gehört eigentlich das Essen? Oder besser: Wer eignet sich die Mittel für Grundversorgung aus welchem Grunde an, obwohl andere dafür gearbeitet haben?
Um als Antwort ein wenig zu dichten: Tausend Mann haben´s angebaut, produziert, transportiert, in Regalen verstaut. Dann hat´s ein Dieb geklaut und für Millionenprofite verkauft.
Aber das ist eine Geschichte, die fast nirgendwo gut ankommt. Es ist die Geschichte von der Klassengesellschaft, von Unterwerfen und unterworfen sein, von freien und unfreien Bürgern, von unterschiedlich privilegierten Lohnabhängigen, die aufeinander einschlagen, von Vermarktung der eigenen Arbeitskraft und Profit schlagen aus fremder Arbeitskraft. Es ist die massive Verschärfung des Widerspruchs zwischen Kapitalbesitz und Lohnabhängigkeit. Ja, das Leben ist ruhiger, wenn man das als Verschwörungstheorie abtut und um Abfälle Konkurrierende als normal betrachtet.
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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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