Ein Kommentar von Susan Bonath.
Man debattiert über Faulheit. Man beleidigt sie als Schmarotzer, sanktioniert und schikaniert sie ohne Ende: Die Verachtung der Armen als überflüssiges Humankapital ist politisches Programm in Deutschland. Doch mehr als 70 Jahre ist es her, als jemand so konkrete Vernichtungsgedanken gegen materiell Outgesourcte äußerte, wie jetzt der CDU-Jungpolitiker Christian Gräff. Der 39jährige Berliner Abgeordnete und dortige Chef der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung, kurz MIT, will Hartz IV für unter 50jährige abschaffen. Keinen Cent Hilfe sollen diese Erwerbslosen bekommen. Nichts fürs Wohnen, nichts fürs Essen, gar nichts.
In einem Papier hat die MIT die Forderung verbrieft. Begründung: Der vermeintliche Fachkräftemangel. Der Staat müsse die Leute noch mehr aktivieren, heißt es da. Der Berliner Morgenpost erklärte Gräff: »Es ist bei der derzeitigen Situation am Arbeitsmarkt nicht einzusehen, dass Menschen, die 25 oder auch 45 Jahre alt sind, zu Hause sitzen und Hartz IV beanspruchen.« Und er weiß genau: Der Schichtarbeiter, die Kassiererin, der Leiharbeiter und die Putzfrau könnten darauf anspringen. Gräff kennt die Neiddebatte: Hier die Fleißigen, da die Faulen, die man zur Arbeit prügeln müsse.
Ja, es ist ungerecht, dass die einen Überstunden schrubben und die anderen nichts finden. Es ist ungerecht, dass rund neun Millionen Beschäftigte im Niedriglohnsektor schuften, dass vor allem Frauen sich nicht selten mit zwei, drei Minijobs über Wasser halten und oft in totaler Abhängigkeit von ihrem Ehemann auf die Altersarmut zusteuern, während andere hohe leistungslose Einkommen beziehen.
Es ist genauso ungerecht, dass inzwischen ein Drittel des von Arbeitern erwirtschafteten Volkseinkommens in Gewinne und Renditen fließt, sich auf diese Weise oben sammelt und unten fehlt. Es ist ungerecht, dass Unternehmer ungestraft entlassen dürfen und sich Betroffene nun selbstverantwortlich erneut auf dem Arbeitsmarkt verdingen müssen. Ja, auch Arbeitskraft ist eine Ware in der schönen bunten Warenwelt. Das weiß Herr Gräff durchaus, der selbst als Abgeordneter vom Steuerzahler prächtig lebt.
Nicht jedem fällt es leicht, sich anzubieten auf dem Markt, der nur einer Sache dient: Profite abzuschöpfen. Es gibt Leute, die Kinder allein erziehen, ihre alten Eltern pflegen, einfach gestrauchelt sind oder psychische Probleme haben. Ihnen wollen Gräff und Co. das Existenzminimum streichen. Noch mal: Es geht nicht um Luxus, sondern um das Minimum, um in der teuren BRD nicht unter einer Brücke sterben zu müssen.
Schon jetzt wird Betroffenen selbiges für drei Monate gekürzt oder ganz entzogen, wenn sie sich einer Maßnahme oder einem Billigjob verweigern. Jährlich strafen Jobcenter rund eine Million mal auf diese Art. Schon jetzt sind deutsche Großstädte voller verwahrloster Obdachloser und Bettler. Schon jetzt sind 200.000 der propagierten 750.000 angeblich offenen Stellen Mini- und Teilzeitjobs. Schon jetzt ist die Hälfte vom Rest unsichere und mies entlohnte Leiharbeit. Wer auf diesem Sklavenmarkt nichts findet, soll nach Ansicht des CDU-Mannes und seiner »Leistungsträger«-Truppe schlicht verhungern.
Denn was sollen die Millionen übrig Gebliebenen essen? Wo sollen sie schlafen? Was soll aus ihren Kindern werden? Sollen sie alle mit Drogen dealen, sich prostituieren, stehlen oder Einbrüche begehen, um nicht zu verhungern? Soll die Politik sie in Arbeitslager stecken, um das zu verhindern? Was sollen sie dort tun, wenn es keine produktive Arbeit für sie gibt? Steine für einen täglichen Teller Rübensuppe hin und her schleppen, bis sie geschwächt umfallen? Diese Fragen muss man stellen.Gefängnisplätze sind teurer als Hartz IV.
Christian Gräff und seine Freunde von der CDU wissen genau, dass Erwerbslosigkeit unter heutigen Besitzverhältnissen ein strukturelles, kein individuelles Problem ist. Sie wissen, dass die Erzählung eine Lüge ist, wonach Reichtum das Ergebnis von Fleiß sei und Faulheit arm mache. Sie wissen auch, dass der neue deutsche Wirtschaftsboom erkauft ist: Mit dem Elend von Millionen Erwerbslosen in Süd- und Osteuropa. Mit extremster Ausbeutung und Verelendung in der sogenannten Dritten Welt. Und ihnen ist klar, dass der Boom zeitlich sehr begrenzt ist. Nicht nur, weil keine Wirtschaft auf einem begrenzten Planeten ewig wachsen kann. Er hat ganz sicher schon einmal etwas von Digitalisierung und Hochtechnologie gehört.
Man muss es konstatieren: Gräff und seine Truppe praktizieren Menschenverachtung pur. Sie wollen ganz offensichtlich ein völlig rechtloses Sklavenheer schaffen, das bei ökonomischer Untauglichkeit knallhart entsorgt werden kann. Sie wollen die Noch-Arbeitsplatzbesitzer absolut gefügig machen: Wer aufmuckt, riskiert die Kündigung. Wer gekündigt wird, dem droht der Hunger- und Kältetod.
Ja, auch der Entzug der Grundbedürfnisse ist Mord. Schon jetzt erfüllt Hartz IV den Zweck der Erpressung bestens. Niemand will sein Erspartes verlieren und in diesem Strafsystem landen. Hartz IV ist bereits ein Instrument, das Lohnabhängige in wirtschaftlich nutzbar und unbrauchbar einteilt – mit entsprechenden Folgen für die Psyche vieler, die dem Wettbewerb am freien Markt nicht gewachsen sind.
Hinter diesem System stehen die Unionsparteien beileibe nicht alleine. Auch die SPD, die FDP und die AfD verteidigen es so vehement, wie sie höhere Steuersätze für reiche Profiteure ablehnen und Ressourcenkriege der NATO befürworten.
Bluten soll das Lumpenproletariat des 21. Jahrhunderts – entmenschlicht, gedemütigt, entrechtet. Die Outgesourcten in den Wirtschaftszentren gehören längst ebenso dazu, wie Millionen Kriegs- und Elendsflüchtlinge. Deren Herkunftsländer lassen erahnen, was den ökonomisch Überflüssigen in den reichen Staaten bei einem Weiter so bevorsteht. Fast jeder Lohnabhängige kann schnell dazu gehören.
Und doch sind diese repressiven Ansinnen nur das Resultat der sich verschärfenden systemischen Widersprüche. Die moralische Verrohung ist das Ergebnis des auf die Spitze getriebenen Wettbewerbs, in dem Statusakrobaten verzweifelt gegeneinander ringen. Es ist der Ausfluss der strukturellen Gewalt, mit der jeder Staat in dieser Wirtschaftsordnung die Interessen des Großkapitals vertritt. Wie er letztere durchsetzt, bestimmen weder Faulheit noch Fleiß, sondern die Profitrate. Stagniert das Wachstum, stagniert auch sie.
Am Ende jeder Herrschaft steht immer rohe Gewalt, und zwar gegen alle, die nicht von Kapitalbesitz und fremder Arbeit leben können. Wäre es anders, wäre die heutige global agierende und national Zwang ausübende Herrschaftsordnung längst gescheitert.
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