Ein Kommentar von Rüdiger Lenz.
Am 3. September, also diesen Sonntag, findet für das Wahlvolk eine der wichtigsten Veranstaltungen statt. Martin Schulz, der Herausforderer, trifft auf die Bundeskanzlerin Angela Merkel. Beide werden sich dort im Schlagabtausch ein schon im Vorfeld viel beachtetes Duell der besseren Argumente für das Amt des Bundeskanzlers liefern. Bisher war der Bundestagswahlkampf dadurch auffällig, dass er so gut wie niemanden auffiel. Alle wissen zwar, dass im September die Bundestagswahlen sind, doch die Kandidaten tun so, als wäre das Rennen schon gelaufen.
Vor allem Martin Schulz fällt dadurch auf, dass er diese Wahl- zu der er sich über seine Partei, die SPD, hat aufstellen lassen- nicht so ernst nimmt wie seine Vorgänger. Es scheint, als sei die Wahl schon gelaufen. Merkel bleibt im Amt und Schulz wird neuer Vorsitzender der SPD. Ein Trauerspiel, so die vielen Wähler, die darauf warten, dass es endlich losgeht, mit dem Kampf um die Wahl des mächtigsten Menschen in diesem Land. Der Wähler, dazu aufgerufen, diesen Wahlkampf durch seine Stimme und seine Wahl zu legitimieren, soll nun den wichtigsten Prozess, dem man ihn in der Demokratie zugedacht hat, mitgestalten. Seine Stimme ist wichtig und um diese Stimme wird gekämpft. Natürlich ist dies kein Kampf, aber um dem ganzen ein Spektakel und etwas mehr Wichtigkeit zu verleihen, wird dieser Begriff des Kampfes dazu benutzt, dem Wähler Bedeutung und Teilnahme an einem demokratischen Prozess zu vermitteln. Achtung: Spoiler!
Der Stern schreibt, dass das Kanzleramt massiven Einfluss auf die Gestaltung des Duells zwischen Merkel und Schulz genommen habe. Er moniert, dass es nicht einmal einen Aufschrei dazu gibt: „Die Nation nimmt es weitgehend achselzuckend zur Kenntnis.“ Weiter schreibt der Stern: „Es soll ja Zeiten gegeben haben in dieser Republik, da hätte ein solcher Versuch der Einflussnahme die Wahl entscheiden können – und zwar zu Ungunsten des Einflussnehmers. Heute sieht sich das Kanzleramt nicht einmal zu einer Stellungnahme genötigt. Darauf in ihrer üblichen Sommer-Pressekonferenz am Dienstag angesprochen, sagte die Kanzlerin, es sei “guter Stil“, dass man über die Modalitäten spricht, wie die Dinge ablaufen können. Zweifellos ist das so, schließlich sollen die Kandidaten als Teil des Programms professionell auftreten können. Sicher nicht zum guten Stil zählt aber, was der “Spiegel” nach wie vor unwidersprochen berichtet; nämlich, dass Merkels Medienberaterin Eva Christiansen und Steffen Seibert (was hat eigentlich der Regierungssprecher im CDU-Wahlkampf zu suchen?) den TV-Anstalten die Pistole auf die Brust gesetzt haben sollen. Maxime: Entweder spielen wir nach den Regeln der Kanzlerin oder eben gar nicht.
Wechseln wir nun zum Mannheimer Morgen. Der schreibt einen Tag später, am 30. August 2017: Strafanzeigen gegen Merkel „alle haltlos“, Hochverratsvorwürfe der AfD – Bundesanwaltschaft sieht keine Basis für Ermittlungen. Bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe sind seit Beginn der Flüchtlingswelle im Jahr 2015 „mehr als 1000 Strafanzeigen“ gegen Kanzlerin Angele Merkel (CDU) eingegangen. Vorwurf: Hochverrat. „Die Strafanzeigen gegen die Bundeskanzlerin haben sich alle als haltlos erwiesen“, sagte Sprecherin Frauke Köhler am Dienstag auf Anfrage des „Mannheimer Morgen“.
Nun ist es sicher nichts Neues, dass gegen eine Kanzlerin oder einen Kanzler ermittelt wird. Denn Anzeigen kann jeder stellen und Staatsanwälte müssen ermitteln. Das ist die Normalität des Rechtsstaates. Was aber unberücksichtigt dabei bleibt, dass ist der Unmut großer Bevölkerungsschichten. Diese teilen sich in zwei Gruppen auf. In Protestwähler und Nichtwähler. Der Protestwähler will mit seiner Stimmenabgabe sagen, dass ihn die große Politik nicht erreicht hat, er sich vielleicht von ihr hintergangen oder ausgegrenzt fühlt. Der Nichtwähler hat einfach die Schnauze von diesem ganzen Spiel voll. Er ist nicht bloß frustriert, er meint, für sich erkannt zu haben, dass die Politiker ihr Spiel sowieso spielen und alle Wahlen nur eine Farce für das Stimmvieh sei.
Dass die Bundeskanzlerin in der Flüchtlingsfrage sogar grobe Fehler gemacht hat, das ist unübersehbar. Nicht etwa, weil sie Flüchtlingen Asyl gewährt hat, sondern wie sie im Alleingang die Grenzen für Flüchtlinge geöffnet hat.
Was ist hierbei das Problem? Das Problem ist, dass in dieser sogenannten Demokratie gar keine demokratischen Entscheidungen getroffen werden. Es werden Hierarchie-Entscheidungen getroffen, die diktatorische Züge involvieren. Und zwar durch alle Gremien, Parteien und Parlamente hinweg. Um dies zu verdeutlichen, lade ich den Leser in ein kurzes Seminar über Entscheidungsfindungen ein.
Angenommen sie haben in einer Gruppe ein Arbeitsproblem, dass sie nur mathematisch lösen können. In ihrer Arbeitsgruppe sind weitere drei Kollegen und zwei Kolleginnen. Alle sind unterschiedlich in Mathe begabt und sie wissen von sich, dass sie Mathe überhaupt nicht gut können. Was machen Sie? Sie fragen die ganze Gruppe nach einer Lösung und Inge meldet sich schnell und hat eine Lösung, Bernd stimmt ihr zu. Rolf erklärt, Inge habe sich geirrt und nennt eine neue Lösung, alle stimmen zu. Das läuft nun mehrmals in ihrer Arbeitsgruppe ab und sie merken, dass Rolf ziemlich gut in Mathematik ist. Sie bestimmen Rolf nun zum Aufgabenlöser für solche Probleme. In der Psychologie sagt man zu solchen Lösungen: Die Sahne steigt immer nach oben, sprich, gute Leute werden immer in der Hierarchie nach oben befördert.
Jetzt ist es in der Realität jedoch so, dass die Sahne nur selten wirklich nach oben steigt. Denn in der Kommunikation hat sich ein ganz anderer „Konsens“ entwickelt, nämlich das Umgehen von Konsens ganz allgemein. Und das geht so: Der Chef, oder die Gruppenleiterin lädt die Arbeitsgruppe wegen eines Problems zu sich ins Büro und möchte von der Gruppe Lösungen. Er gibt als erster oder sie als erste seine Einschätzung zum Problem ab, sendet eine Lösung in die Gruppe und fragt nun den in der Hierarchie nach ihm oder nach ihr Angestellten nicht etwa nach einer Lösung. Es wird nach Zustimmung der eigenen Lösung gefragt und dann folgt Zustimmung im Radfahrermodell. Das heißt, „in absteigender Rangfolge“ wird zugenickt, was der Chef oder die Gruppenleiterin zuvor als individuelle Lösung benannt hat.
Jetzt könnte man das Ganze in einer Abstimmung, ganz demokratisch, vollziehen. Das aber nützt auch nichts mehr. Denn genau dieser „falsche Konsens in absteigender Rangfolge“ hat sich bei fast allen Mitgliedern fest eingebrannt, weil a) niemand gegen den Chef aufbegehrt, b) jeder seinen Arbeitsplatz behalten will und c), niemand aus der Hierarchie aussteigt. Denn die Hierarchie ist ja der Garant dafür, dass auch ich aufsteigen kann. Die Hierarchie ist der Haken, an dem echter Konsens zappelt und den Haien zum Fraß vorgeworfen wird.
So lange die Hierarchie über den Lösungen schwebt, so lange werden an der Spitze der Hierarchie nicht die ankommen, die wirklich gute Lösungen für anfallende Probleme erkennen, sondern die, die schnell und eindrücklich ihre Lösungen vorantreiben; egal ob diese Lösungen dann wirklich die besten sind. So funktioniert Hierarchie. Hierarchie ist ein schlechtes Mittel, um Lösungen zu finden, die vor allem prekäre Situationen umfassen. Und genau das ist unser Problem mit der Demokratie. Um echten Konsens zu erlangen, benötigt eine Gruppe, die schwierige und prekäre Probleme lösen will, keine Hierarchie. Nur so kann eine Lösung auch von jemanden erarbeitet werden, der dann die beste aller möglichen Lösungen herausfindet. Das wäre aber echte Demokratie. Demokratie benötigt eine Gesellschaft, in der die Politiker ihre Hierarchie abwerfen. In einer Parteiendemokratie ist das so gut wie unmöglich.
Ich habe das Konzept des Konsens hier nur sehr laienhaft und verkürzt dargestellt. Es ist heute gängige Praxis in der Unternehmensberatung, auf genau eine solche Struktur aufmerksam zu machen und sie möglichst ins Unternehmen einzubinden. Deren Konsequenzen sind sehr umfangreich und betreffen nicht bloß die Unternehmensstrukturen des Managements. Alle Mitarbeiter müssen einen solchen Konsens neu lernen, denn in unserer ganzen Gesellschaft gehört sein Gegenteil- also der Aufbau von Hierarchie- zum unsichtbaren Lehrmeister für die eigene Karriere. Dieser unsichtbare Lehrmeister führt uns schnurstracks in eine Diktatur im Kleinen und breitet sich weiter aus in einer Diktatur im Großen.
Sie, liebe Leserin und lieber Leser, haben das jetzt gelesen oder auf You Tube gehört. Nehmen Sie dieses knappe Wissen mit, wenn Sie sich das TV-Duell anschauen, und achten Sie auf die Hierarchie. Wenn Sie achtsam sind, dann werden sie die ganzen Fallstricke dieser Hierarchie bei den Kontrahenten erfassen können. Sie werden das Nachnicken in Form des Beklatschens beim Publikum bemerken und sie werden die Strategie und den Missbrauch bei den Moderatoren erfassen, wie sie nicht Konsens, sondern Hierarchie zu ihrer guten Gesprächsführung machen. Die Hierarchie ist ein Garant auch für deren erbärmlichsten Erfolg.
Selber denken ist möglich. Es ist anstrengend. Ja! Aber wenn wir diese Anstrengung vermeiden, setzen wir unsere wahren Werte aufs Spiel. Und diese heißen: Habe Mut Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen. Solange die Bundestagswahlen über einen hierarchischen Konsens ablaufen, laufen sie nach einem undemokratischen Modell ab. Demokratie hat den Nachteil, dass auch sie missbraucht werden kann, sobald Mehrheiten manipulativ zum Narrativ der Demokratie erhoben werden. Nämlich von der in uns sehr fest verankerten Hierarchie, die wir dazu benutzen, selbst mit Nachdruck Karriere zu machen. Karriere ist in einer wettbewerbsorientierten Gesellschaft wie der unsrigen ein egoistisch narzisstischer Entwurf für das Ego. Ein Konsens, der dazu führt, dass alle an einer Lösung arbeiten und mal jener oder jene eine Lösung findet, wäre nicht nur ein besserer Weg für uns. Es wäre ein Fortschritt für die ganze Menschheit. Bundeskanzlerin Merkel oder Martin Schulz – sind sie wirklich diejenigen in unserer Gesellschaft, die zu guten Lösungen beitragen können? Ich glaube nicht. Denn das, was beide repräsentieren, ist Hierarchie, nicht aber Konsensfähigkeit. Sie arbeiten nicht mittels Konsens. Sie arbeiten mit einem Heer von Beratern, die wiederum in einem hierarchischen System unterwegs sind. Wahlen sind in diesem Sinn solange undemokratisch, weil sie ein bloßes Mittel zur Macht und zur Karriere sicher stellen. In niemandem ist dies deutlicher zu erkennen, als im langweiligsten Wahlkämpfer Martin Schulz.
Quellen
https://www.morgenweb.de/mannheimer-morgen_artikel,-politik-strafanzeigen-gegen-merkel-alle-haltlos-_arid,1104424.html
Christopher Chabris, Daniel Simons, “Der unsichtbare Gorilla, wie unser Gehirn sich täuschen lässt”, München 2011
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