Ein Kommentar von Dagmar Henn.
Manchmal wünscht man sich eine große, lange, spitze Nadel, um wenigstens einen dieser politischen Luftballons, die durch die Landschaft segeln, zum Platzen zu bringen; zusehen zu können, wie die abgefüllte Luft entweicht, das aufgeblasene Nichts erschlafft und zuletzt nicht mehr als ein schrumpeliges Häufchen Gummi übrig bleibt. Gut, bei der EU-Wahl wäre es eine echte Herausforderung gewesen, sich auf einen Ballon zu beschränken, aber ach, schon die Freude, nur einen sinken zu sehen…
Nie gab es ein solches Ausmass an Manipulation und offener, dreister Lüge wie bei dieser EU-Wahl. Das beginnt im Grunde schon mit der Behauptung, der an die EU-Kommission angehängte Debattierclub sei ein Parlament, und seine Zusammensetzung hätte etwelchen Einfluss auf die reale Politik der EU. Selbstverständlich hat er keinen, und die ganze Panik, die ob eines um sich greifenden ‚Nationalismus‘ verbreitet wurde, hätte am Sonntagabend, nachdem sie ihre Funktion erfüllt hatte, die deutschen Wähler an die Urnen zu treiben, mit der simplen Wahrheit entsorgt werden können, es sei nichts wirklich Schlimmes passiert, das seien eh nur Fake-Mandate für ein Fake-Parlament.
Das geschieht natürlich nicht, denn es ist viel zu nützlich, einen Grund vorrätig zu haben, warum sich alle jetzt auf die Seite der Regierung stellen müssen. Mit den wirklichen Problemen der EU hat das alles nichts zu tun, das wirkliche Problem der EU ist die deutsche Exportwalze, die alles planiert, was nach Industrie aussieht, und selbst die Gewinne aus dem durch Verschuldung der Nachbarn für Deutschland unterbewerteten Euro mit eiserner Konsequenz in die Kassen der deutschen Oligarchen, und nur der deutschen Oligarchen spült. Der deutsche Nationalismus wird via Brüssel ausgelebt, daher kann man leicht so tun, als hätte man keinen, während die Nachbarn furchtbar böse sind und ihre historischen Lektionen nicht gelernt haben, sobald sie sich, wie auch immer, zur Wehr setzen.
Nichts da, Exportwalze, wir müssen das Klima retten, brüllt ein riesiger grüner Ballon an der Spitze einer ganzen Flut weiterer, greta- und rezogesichtiger. Würde die Nadel jetzt zustoßen, sie würde sichtbar machen, wie mit North-Stream II und der Neuen Seidenstraße die tapferen Klimarecken genau die zwei Projekte sabotieren, die ihrer eigenen Theorie nach den größten Nutzen für das bedrohte Klima brächten, aber wer will schon Wahrheit in der EU-Wahl… immerhin kann man ihnen nicht vorwerfen, durch den Import von Fracking-Gas die Zerstörung der US-amerikanischen Umwelt zu fördern; das ist ja auch nur russisches Gas in amerikanischen Tankern mit einem kleinen Preisaufschlag…
„Die EU sozialer machen“ gab es in allen denkbaren Schattierungen von rosarot, und eigenartigerweise hat niemand gelacht, obwohl das ein Witz war, von der Sorte: ich gehe mal zu meiner Lebensversicherung, die Konditionen neu aushandeln. Sie haben alle mitgespielt und einen Ballon nach dem anderen aufgeblasen.
Als am Montag die Chefin der Linkspartei Katja, die Rache der Fabrikantenfamilie Kipping an der deutschen Arbeiterbewegung (1), mit einem unterdrückt triumphierenden Lächeln in die Bundespressekonferenz einschwebte, war klar, dass sie weiss, was ihr wirklich nahe geht: der Sieg über ihre alte Rivalin. Die öffentlich ausgetragene Debatte über die Migrationsfrage sei schuld an den Stimmverlusten ihrer Partei, erklärte sie, mit leicht empörtem Beben in der Stimme, nicht, ohne gleich wieder das höhere-Töchter-Lächeln aufzusetzen.
Denn schließlich, da war sie sich mit Kompagnon Riexinger einig, der seine Sprechblasen im Hüpfsitz abgab, was macht es schon, wenn man bei der Arbeiterschaft Stimmen verliert, solange man sie mit jungen Leuten kompensieren kann, die ja auch irgendwie abhängig beschäftigt seien.
Das war das offene und endgültige Bekenntnis, eine bürgerliche Partei neben anderen bürgerlichen Parteien zu sein, nicht Selbstorganisation, ja nicht einmal mehr Stimme der Entrechteten, der Armen, der Wohnungslosen, der Alleinerziehenden, der Niedriglöhner. Auch längst schon nicht mehr Stimme des annektierten Teils; das war mit Ramelows Kotau vor dem Antikommunismus schon fast preisgegeben, mit dem Einstimmen ins Chemnitzbashing im letzten Jahr aber endgültig abgeschlossen. Schließlich musste die Linkspartei erst das Feld räumen, ehe ein Björn Höcke das Thema vom Raubzug der Treuhand (2) bespielen konnte. Sie hat es geräumt, unter der Führung der Annektionsgewinnerin Kipping, und hat sich ihre Stimmverluste an den blauen Abgrund ehrlich verdient.
Aber das macht ja nichts, dafür macht man noch ein, zwei amtliche Aufmärsche ‚gegen Rechts‘ und ‚gegen Hass‘, und die Toten Hosen dürfen auch wieder dabei sein. Schließlich ist man erst dann wirklich im Westen angekommen, wenn der Antifaschismus zur Farce verkommen ist, jeder Bezug zwischen Hitlerfaschismus und Westrepublik aus dem Gedächtnis gelöscht und die Frage von Klassenherrschaft und Klassenmacht durch Moral und Gebete ersetzt wurde. Das passt aufeinander wie Arsch und Eimer, der Rückzug der Linkspartei und die Gewinne der AfD, und der nächste logische Schritt wäre dann, jeden, der die Treuhand kritisiert, zum Nazi zu erklären, weil Höcke die Treuhand attackiert hat, ungeachtet der Tatsache, dass das Modell für die Treuhand der Raub jüdischer Unternehmen unter dem Motto der ‚Arisierung‘ war.
NATO-Freundin Kipping träumt von dem Moment, an dem sie unbehelligt von innerparteilicher Kritik vor Islamistenbussen stehen oder sich für Pussy Riot erklären kann, und im Burgfrieden der Deutschropa-Nationalisten jedes Problem, das verschwiegen werden kann, nicht mehr existiert oder zur AfD entsorgt und damit tabuisiert wird. Wir sind schließlich nicht in Frankreich, es steht vorerst nicht zu fürchten, dass unbotmäßige Gelbwesten das ganze wohlverschnürte Elend wieder auspacken und auf den Tisch knallen. Die Zeit der Ballons ist noch nicht vorüber, und der Wunsch nach der langen, spitzen Nadel beherrscht die Tage.
Allerdings ist diese Welt eine materielle, und womöglich muss man die Ballons nicht einzeln zerstechen. Die großen Pläne vom deutschen Europa können höchst real scheitern, nicht nur in Gestalt einer wirkungslosen EU-Wahl. Die NATO, bei der sich die Linkspartei lieb Kind macht, hat ihre besten Tage schon hinter sich, und wenn die Konturen der neuen Welt auch in Deutschland sichtbarer werden, findet Politik wieder auf dem Boden der Tatsachen statt und niemand interessiert sich mehr für ein aufgeblasenes Nichts in Bunt, das am Himmel vorbeizieht.
Quelle:
- https://www.zeit.de/2013/32/katja-kipping-parteivorsitzende-linke
- https://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-und-linke-wahlkampf-mit-dem-treuhand-ausschuss-a-1267438.html
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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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