…für Hartz-IV-Empfänger, Pflegepersonal und Arbeitsmigranten.
Ein Kommentar von Bernhard Loyen.
“Made in Germany” hatte Jahrzehnte lang einen legendären Ruf. Hatte. Welche Chance hätte dieses Land nutzen müssen, nachdem ein fremdbestimmtes Konstrukt von zwei deutschen Ländern, Grenze an Grenze, über vierzig Jahre ein immerhin, nennen wir es, jeweilig ruhiges Dasein fristete.
Made in Germany stand vordergründig für Westdeutschland. Ja, auch die DDR war weltweit anerkannt in industriellen, wissenschaftlichen, sportlichen und künstlerischen Bereichen, aber das eigentliche Copyright für diesen Titel stand für die alte BRD.
Nun wurde diese einmalige historische Chance bekanntermaßen nicht genutzt. Eine nicht untypische deutsche Arroganz, in diesem Falle westgefärbt, zerstörte intakte Strukturen, inklusive Biografien und stülpte dem frischvereinten Land ein neues System über. Anstatt voneinander zu lernen, abzuwägen welche Erfahrungen, Reglungen und Gesetze diesem nun großen Land im beidseitigen Miteinander zu Gute kämen, hieß die Marschroute West: hobeln, sägen, einreißen, niedermachen. Vorhandenes mutwillig zerstören. Nur dadurch wurde Raum und Platz frei gemacht, um die Realitäten zu schaffen, die Aufgrund der Existenz der DDR in dieser aggressiven Reinkultur 40 Jahre nicht durchsetzbar waren.
Zwei Beispiele von vielen. In den Neunzigern aktive Kriegspolitik in Jugoslawien und seine damit verbundenen Folgen, sowie in den 2000er Jahren Sozialabbau und Bürgergängelung durch das neugeschaffene System Hartz IV. Dass beides durch eine ursprüngliche westliche Oppositionsachse aus SPD und Grünen umgesetzt wurde, muss noch als zusätzlicher Treppenwitz der Geschichte betrachtet werden.
Die Hartz-IV-Reglung gilt weiterhin als der markante politische Einschnitt. Nun soll aktuell das Kindergeld um Sage und Schreibe 10,-€ monatlich erhöht werden, aber nicht für alle Familien. Bei Hartz-IV-Empfänger werden diese 10,-€ unmittelbar vom Regelsatz abgezogen. Bei der Bundespressekonferenz vom 27. Juni 2018 fielen zu diesem Thema erkenntnisreiche Sätze.
Zitat Sprecher Bundesfinanzministerium: Erstmal grundsätzlich ist das ein klares Signal für eine wachstumsfreundliche und gerechte Steuerpolitik und deswegen wollen wir die verfügbaren Einkommen von Familien stärken. Zum Thema unmittelbarer Abzüge bei Hartz-IV-Empfängern konnte er aber nichts erklären, daher gab er die Frage weiter an die Sprecherin vom Bundesarbeitsministerium. Die wollte das dann auch gerne tun, also erklären. Originalzitat: Wie Sie wissen ist es in Deutschland das Prinzip der Nachrangigkeit, der staatlichen Unterstützung geltend in diesem Fall und so ist es auch der Fall, dass das Kindergeld angerechnet wird, sobald Familien sich in Bezug des SGB2 (also Hartz IV) befinden.
Verständlich? Nicht wirklich. Es geht aber noch weiter. Originalzitat: Gleichwohl wissen Sie ja auch, dass die Bundesregierung eine Vielzahl von Maßnahmen unternommen hat und weiterhin unternimmt, um das Risiko von Kinderarmut zu senken. Da gibt es mehrere Stellschrauben. Einmal ist es natürlich ganz klar die Erwerbstätigkeit der Eltern, die maßgeblich, also je höher der Umfang der Erwerbstätigkeit der Eltern, desto geringer ist das Armutsrisiko von Kindern. Dort setzen wir an.
Kann man dieses Inhaltsgeschwurbel noch toppen? Der Sprecher vom Bundesfamilienministerium kann. Originalzitat: Die Kollegin hat ja jetzt schon zur Sozialgesetzgebung gesprochen und erklärt. Insgesamt muss man sagen, dass es ein guter Tag für die Familien in Deutschland ist.(1)
Tja, so sind sie. Hartz-IV-Empfänger, Familien mit Kindern werden trotz klarer Fragestellung einfach mal übergangen. Sie existieren millionenfach, aber nicht für Regierungsmitarbeiter. Mir persönlich hat das Wort “Stellschrauben” sehr gut gefallen, weil es artverwandt mit dem Wort Daumenschrauben ist. Das Wörterbuch erklärt: Stellschraube, Schraube zum Einstellen und/oder Regulieren. Da kommen wir der Gedankenwelt der Politiker schon ein Stückchen näher.
Dezente Erinnerung aus dem Februar 2018: Die 709 Bundestagsabgeordneten können einem Bericht zufolge ab Juli mit einer Diätenerhöhung um 2,5 Prozent rechnen. Wie die „Bild“-Zeitung berichtete, steigen die Bezüge um rund 240 Euro auf 9780 Euro brutto im Monat. Die Erhöhung ergebe sich aus der vorläufigen Berechnung der Lohnentwicklung im vergangenen Jahr durch das Statistische Bundesamt.(2)
Die Tagesschau informierte im April diesen Jahres: Fast jedes siebte Kind unter 18 Jahren ist in Deutschland auf Hartz IV angewiesen. Der Anstieg 2017 hat vor allem mit dem Zuzug von Flüchtlingen zu tun. Insgesamt lebten im Juni vergangenen Jahres 2,052 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Familien, die auf Hartz IV angewiesen waren. Dies sind 5,2 Prozent mehr als im Juni 2016 und sogar acht Prozent mehr als vor fünf Jahren.(3)
Damit wären wir beim Thema Flüchtlinge. Sind Arbeitsmigranten auch Wirtschaftsflüchtlinge, wenn sie arbeiten wollen? Sind Kriegsflüchtlinge auch Verfolgte, wenn sie „nur“ vor dem Krieg fliehen. Wer hat die Deutungshoheit, definiert die Regeln, warum ein Mensch, eine Familie tausende von Kilometern auf sich nimmt, um ein in ihren Augen lebenswerteres Dasein zu erreichen? Wieviel Anteil trägt die deutsche Außenpolitik, am Staus quo der Flüchtlingswelle?
Die Zusammenhänge werden immer verworrener, für einen Großteil der Bevölkerung nicht mehr nachvollziehbar. Hier kann mit Gewissheit formuliert werden: versagt die Politik in ihrer Aufgabe nicht nur zu handeln, sondern auch sehr wohl ihr Handeln glaubhaft zu erklären, zu vermitteln.
Bedienen wir uns erneut bei der Tagesschau: Binnen eines Jahres will die Bundesregierung ein Maßnahmenpaket gegen den Pflegenotstand verabschieden. Geplant ist etwa, die Löhne für Pfleger zu erhöhen und Tausende Arbeitskräfte im Ausland anzuwerben.(4)
Übersetzt bedeutet dies doch, durch die jahrelange Zerstörung attraktiver Arbeitsplätze, der massenhaften Privatisierung im Gesundheitssystem und damit verbundenem Lohndumping, soll jetzt der Arbeitsmigrant das auffangen, wo die Politik versagt hat? Familienministerin Franziska Giffey formulierte das bei Vorstellung der aktuellen Stellschraube in der Pflege, namens “Konzertierte Aktion Pflege” für die Bild am Sonntag so: Zuerst müssen wir dafür sorgen, dass mehr Leute aus dem Inland wieder in der Pflege arbeiten wollen”, sagte Giffey der Zeitung. “Es muss cool sein, Pflegefachkraft zu sein.“ Den Satz lesen Sie mal der Belegschaft in einem beliebigem Krankenhaus vor. Mit Sicherheit erfolgt ein müdes Kopfschütteln.
Welch erneute Farce diese Ankündigung darstellt, ergibt sich aus dieser Nachricht, die genau einen Tag zuvor im Spiegel zu lesen war: Lobbyverband. Rainer Brüderle will Tariflöhne in der Altenpflege verhindern. Die Regierung drängt Arbeitgeber und Gewerkschaften zu flächendeckenden Verträgen in der Altenpflege. Doch nach SPIEGEL-Informationen macht ein bekannter Lobbyist dagegen Stimmung: Ex FDP Wirtschaftsminister Rainer Brüderle.(5)
Nein und nochmals Nein. Die aktuelle Politik möchte nicht zum Wohle der Bürger agieren. Sie schafft gesetzliche Keile, um gesellschaftlich zu spalten. Sie nutzt politische Stellschrauben, um millionenfach Unsicherheit in der täglichen Existenz zu justieren, bzw. regulieren.
Made in Germany war letztes Jahrhundert. Christian Lindner von der FDP formulierte in der gestrigen Debatte im Bundestag folgende Erkenntnis: „Wir haben einmal gesagt: ‘Lieber nicht regieren als falsch regieren!’ Wir haben uns nicht vorstellen können, dass beides gleichzeitig geht.“.(6) Bei seinem Gehalt, nicht wirklich existentielle Problematik. Für ein Großteil der Deutschen beunruhigende Realität.
Quellen
- https://www.youtube.com/watch?v=7gGirfEaF7U
- https://www.epochtimes.de/politik/europa/diaeten-der-bundestagsabgeordneten-steigen-um-25-prozent-pensionen-ebenfalls-um-25-prozent-erhoeht-a2343837.html
- https://www.tagesschau.de/inland/kinder-hartz-vier-101.html
- https://www.tagesschau.de/inland/pflegepaket-101.html
- http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/rainer-bruederle-will-tarifloehne-in-der-altenpflege-verhindern-a-1215724.html
- https://www.youtube.com/watch?v=MGJaRswdmy4
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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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