Ein Kommentar von Susan Bonath.
Seit mehr als einem Vierteljahr ist Deutschland ohne »gewählte« Regierung. Regiert werden wir natürlich trotzdem. Behörden setzen Gesetze durch, die Kriege unter Beteiligung der Bundeswehr laufen weiter, die Rüstungsgeschäfte florieren, die Macht des Finanzkapitals und seiner Medien hat uns eh im Griff. Und das Netzwerkdurchsuchungsgesetz: Seit dem 1. Januar schlägt es gnadenlos zu.
Zum Beispiel bei Twitter, YouTube und Facebook: »Guten Tag, lieber Nutzer, wir mussten leider einen Beitrag von dir entfernen, weil er gegen unsere Richtlinien verstoßen hat. Wir weisen dich darauf hin, dass wir bei wiederholten Verstößen dein Konto sperren dürfen. Informiere dich hier über unsere Richtlinien.« Nach einem Klick erfährt der Nutzer schließlich nur: Das Verbreiten von Hass, Gewaltdarstellungen und Pornographie widerspreche den Nutzungsbedingungen.
Hat jemand von Ihnen in der jüngsten Zeit eine solche oder ähnliche Nachricht erhalten, vielleicht sogar ohne zu wissen, welcher Beitrag gemeint war und was genau daran der Verstoß war? Denn: Was ein jeder unter Hass und Gewaltdarstellungen versteht, ist wohl doch höchst unterschiedlich.
So soll es, witziger Weise, am Samstag den obersten Macher und Verfechter des Zensurgesetzes selbst getroffen haben: Bundesjustizminister Heiko Maas. Der SPD-Politiker habe laut Medienberichten getwittert: »Beim Besuch der islamischen Gemeinde in Saarbrücken ist mir gerade wieder klar geworden, was für ein Idiot Sarrazin ist.« Nachdem Sarrazin-Fans angekündigt hätten, Maas wegen »Hatespeech« zu melden, habe Twitter durchgegriffen und den Beitrag vom Netz genommen.
Das mit Sarrazin kann man so sehen. In seinen Büchern gab der frühere Bundesbank-Vorstand, der nicht zu den Ärmsten in Deutschland zählt, nicht nur zynische Vorschläge zum Besten, wie Hartz-IV-Bezieher sich von vier Euro noch was pro Tag ernähren könnten. Er spielte sich auch als »Wissenschaftler« auf. Seine Behauptungen erinnern dabei an ein dunkles Kapitel: Araber und Afrikaner seien genetisch besonders dumm, Deutsche besonders klug. Vor 80 Jahren sprachen die deutschen Faschisten von »Herrenvolk« und »Untermenschen«. Die Folgen sind bekannt.
Niemand hinderte Sarrazin seinerzeit daran, seine pseudowissenschaftliche und entmenschlichende Hetze gegen Minderheiten in Deutschland unters Volks zu bringen. Man kann sie in jedem Buchladen erwerben. Natürlich ist derlei Hetze auch zu Hauf in sozialen Netzwerken zu finden. Doch man hat den Eindruck: Darum geht es bei dem Netzwerkdurchsuchungsgesetz gar nicht.
Marktführende Medien erklären seit Jahren Hartz-IV-Bezieher zu Faulpelzen, denen man zurecht die bürgerlichen Rechte entziehen dürfe. Sie stempeln erwerbslose EU-Arbeitsmigranten de facto zu Untermenschen, die gefälligst zu Hause in Mülltonnen wühlen sollen. Sie diskriminieren Flüchtlinge in sarrazinscher Manier gemeinhin verallgemeinernd zu bildungsfernen kriminellen Horden. Über- und Untermenschen eben, genetische Herren und Sklaven. Man weiß: Das fruchtet besonders dann, wenn das Hamsterrad für Viele zugunsten Weniger immer schneller rotiert. Wir sollen nach unten treten für den Status.
Natürlich springen viele darauf an. Die sozialen Netzwerke sind voll solch pauschaler Hassbotschaften. Dass sich Facebook, Twitter und YouTube dem umfassend widmen, ist nicht anzunehmen. Beim Thema politischer Korrektheit könnte das anders aussehen. Oder eben so: Der Willkür beim Einsatz dieser Maßnahmen sind kaum Grenzen gesetzt. Unliebsame Kanäle können ohne jeden Gerichtsbeschluss stillgelegt werden – nicht von einer Regierung, sondern von Privatiers mit Interessen.
Was daraus entsteht, nennt man vorauseilenden Gehorsam. Eine Erziehungstaktik, die Medienkonzerne gegenüber Journalisten schon lange anwenden: Schreibst du nicht, was ich will, verlierst du deinen Job oder deine Aufträge. Dazu braucht es keine extra Anweisung. Der abhängig Beschäftigte oder abhängig Freie weiß, wenn sein Verlag die Unionsparteien besonders mag oder Russland als Feind Nummer eins sieht. Wer um Lohn und Brot fürchtet, passt sich an. Nur die Wenigsten steigen aus ins Ungewisse.
Der Erziehungsauftrag des Netzwerkdurchsuchungsgesetzes ist unbestimmter. Der Nutzer wird sich vielleicht verkneifen, CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt als das zu bezeichnen, was er ist, wenn er einer ganzen Gruppe Menschen noch weniger als die mickrige Sozialhilfe gewähren will. Kritik an führenden SPD-Funktionären, weil sie das auf ihrem Mist mit gewachsene Hartz IV brutal durchsetzen? Kritik an Abgeordneten, die für Kriegseinsätze und Aufrüstung stimmen? So mancher wird sich das jetzt dreimal überlegen. Vorauseilender Gehorsam eben.Ein Mittel gegen Hass ist das Gesetz jedenfalls nicht. Hass wächst innen, sein Motor sind vor allem die gesellschaftlichen Verhältnisse. Es bleibt letztlich wieder nur eins: Das Gesetz gibt einzelnen Privatiers für Willkür freie Hand. George Orwell lässt grüßen.
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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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