Wie durch medial erzeugte Pseudobetroffenheit von menschlichen Grundwerten abgelenkt wird.
Ein Kommentar von Christiane Borowy.
Coronavirus, Wahl in Thüringen, Julian Assange sitzt im Gefängnis, Markus Lanz macht schlechtes Fernsehen – mehr hat die Berichterstattung in den letzten Tagen thematisch nicht zu bieten. In jedem Medium werden die gleichen paar Themen und nachrichtentechnische Luftnummern wiedergekäut. Dabei sollen Emotionen geschürt werden, doch an echter Empathie und dem Stellen grundsätzlicher gesellschaftlich relevanter Fragen wird schlichtweg vorbeigeschrieben. Die wesentlichen Fragen kommen nicht auf den Tisch, denn schließlich ist man ja schon „am Puls der Zeit“.
Die Abnutzung des Nachrichtenwertes entsteht schon beim Studieren der Schlagzeilen. Wen überrascht es denn ernsthaft noch, dass bei Wahlen Vorabsprachen getroffen werden, damit man an die Macht kommt? Ist jemand erstaunt, dass es Ärger gibt, wenn sich jemand nicht an diese Vorgaben hält? Wen überrascht es heute noch, dass es immer wieder einmal Grippeviren gibt, resistente Keime, oder neue Zivilisationskrankheiten? Welcher informierte Mensch staunt tatsächlich darüber, dass Julian Assange im Gefängnis sitzt und sowohl sein Leben als auch die Pressefreiheit in Gefahr ist?
So werden wir schön in Pseudobetroffenheit eingelullt, und ehe wir es uns versehen, empören wir uns nicht mehr darüber, dass menschliche Grundwerte in diesem medialen Nebel verblassen.
Eine Hoffnung schien es zu geben. Am 06.02.2020 berichtet die Tagesschau (1) am frühen Abend über einen unter anderem von dem Journalisten Günter Wallraff initiierten Aufruf zur Freilassung von Julian Assange, dem sich 130 Künstler, Journalisten und Sigmar Gabriel angeschlossen haben. Man bezieht sich auf den UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer, der vor einiger Zeit offiziell bestätigt hat, dass Assanges Gesamtzustand so schlecht ist, dass sein Leben bedroht ist und dass er Anzeichen psychischer Folter zeigt.
Das ist natürlich eine Riesenüberraschung, denn kaum sind beinahe 8 Jahre für Assange ohne Freiheit und frische Luft vergangen, fällt es den Hauptmedien auf, dass es um die Pressefreiheit geht. Man hat das Thema Assange und Pressefreiheit mainstream-medial so lange vom Tisch gewischt, bis Assange durch einen UN-Sonderberichterstatter, durch Assanges Eltern, Freunde und die so genannten „alternativen Medien“ als halbtot deklariert wurde, um dann „hochinformativ“ aber die Hälfte aussparend zu berichten, dass Assange seit einem Jahr im Gefängnis in Belmarsh sitzt. Es entsteht der Eindruck: Das ist ja noch nicht so lange, und wir Medien sind in der Berichterstattung ganz vorne. Was für eine Riesen-Heuchelei!
Sigmar Gabriel gehört zu den Unterzeichnern der prominent besetzten Kampagne. Er sehe die Rechtssicherheit gefährdet. Gabriel faselt dabei allerdings irgendetwas von britischem Recht, nach dem man handeln müsse. Assange müsse das Grundrecht zugebilligt werden, sich auf seine Verteidigung vorzubereiten. Das sei nicht gegeben. Ach so, das ist das Problem im Fall Assange? Aha.
Welche rechtlichen Absurditäten in dem gesamten Fall untersucht werden müssten, wird nicht einmal erwähnt. Wie es überhaupt sein kann, dass die USA die Auslieferung eines australischen Bürgers fordern ist nicht interessant. Im Gegenteil wird im Bericht lückenhaft und das gängige Narrativ zum Fall Assange wiederkäuend der Eindruck vermittelt, Assange hätte sich 2012 aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen für den Verrat von Militärgeheimnissen in die ecuadorianische Botschaft geflüchtet und gleich daran wird berichtet, dass zu damaliger Zeit ein schwedischer Haftbefehl wegen Vergewaltigung gegen ihn vorlag. Mit keiner Silbe wird erwähnt, dass bereits zweimal ein schwedisches Verfahren gegen ihn eingestellt werden musste.
Assange hat geholfen, Informationen, die er selbst erhalten hat zu veröffentlichen. Das wird ignoriert. Ebenso die Grundsatzfrage: „Worum geht es in dem Fall Assange wirklich?“. Sie wird nicht einmal angedeutet. Der Zuschauer kann in dem zweiminütigen Bericht überhaupt nicht begreifen, worum es inhaltlich geht. Es soll nur der Eindruck entstehen, dass Politik und Medien gegen Folter sind und dass man für den Erhalt von Grundrechten kämpft. Immerhin kommt UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer zu Wort, der darauf hinweist, dass Assange in den USA voraussichtlich kein gerechtes juristisches Verfahren erhalten wird. Das gängige Narrativ „Assange ist eine irgendwie zwielichtige kriminelle Figur“ wird nicht angekratzt. Gabriel weist im Gegenteil explizit und peinlich darauf hin, dass er Assange keinen „Blankoscheck ausstellen“ will.
Was im Dunst dieser medialen Nebelkerze verschwindet ist, dass der Fall Assange die gegebenen Macht- und Herrschaftsverhältnisse grundsätzlich in Frage stellt. Das, was Assange getan hat ist, rechtliche Verstöße von Regierungen aufzudecken, zum Beispiel durch das Veröffentlichen des Videos „collatoral murder“, das Kriegsverbrechen offenbart. Darüber darf anscheinend unter keinen Umständen gesprochen werden. Denn die Rechtsunsicherheit Nummer 1 ist doch, dass diejenigen, die Kriegsverbrechen begehen, von der Justiz völlig unbelästigt bleiben. Der Elefant steht im Raum.
Doch dieser Fall ist nicht der einzige, der zeigt, dass es den Medien keineswegs darum geht, aufzuklären und die grundsätzlichen Fragen zu stellen. Auch das „politische Erdbeben“, das durch die Wahl in Thüringen angeblich ausgelöst wurde, ist ein weiteres Beispiel.
Merkel nennt Kemmerichs Wahl einen „unverzeihlichen Vorgang“ titelt am 06.02.2020 die Süddeutsche Zeitung (3). Merkel redet sogar in Südafrika davon, dass ein FDP-Mann mit den Stimmen von CDU und AfD ins Ministeramt gehoben wurde. Na sowas. Ein Skandal. Da hat sich jemand nicht an die Regeln gehalten und wollte Macht und jeden Preis. Was ist daran das Besondere? Das gehört zum politischen Alltag. Doch die Kanzlerin ist empört. Wie bitte? Seit wann steht denn dieses Thema auf der politischen Agenda? Dass ein gewählter Politiker nun zum Rücktritt gezwungen werden soll, und wie es dazu kommen konnte ist medial keine Frage.
Die Grundsatzfrage, inwiefern Wahlen wirklich den politischen Willen der Bevölkerung widerspiegeln oder inwiefern Politik tatsächlich demokratisch ist wird einfach nicht gestellt. Es ist scheinbar nebensächlich, dass politisch doch irgendetwas ganz grundsätzlich im Argen liegt. Darüber gäbe es tatsächlich Anlass, sich zu empören. Doch worüber regt sich die Kanzlerin genau auf? Warum gibt es eine „Schockwelle“, die angeblich die politische Landschaft erschüttert, weil das Abstimmungsverhalten der CDU in Thüringen mit der Parteivorsitzenden nicht abgestimmt gewesen ist. Worüber muss ich als Bürger so betroffen sein?
Was macht eigentlich die Kanzlerin in Südafrika? Diese Frage wird immerhin minimal thematisiert, doch was Deutschland und die „ausgesuchte Wirtschaftsdelegation“ damit zu tun hat, dass Afrika „den direkten Weg in die grüne Energieerzeugung gehen“ kann, bleibt diffus.
Was hat außerdem Annegret Kramp-Karrenbauer im Hintergrund bewirken wollen? Sie hat sich geärgert, so wird berichtet, dass sie ja vorhergesagt und gewarnt hat, einen FDP-Kandidaten aufzustellen. Sie plädiert für Neuwahlen, der „Preis dafür sei hoch“ wird in der Tagesschau am Morgen des 07.02.2020 berichtet. Deshalb spricht sie sich dann zunächst gegen Neuwahlen aus. Es wird nach Führung gerufen, vom „Ernst der Lage“, vom „Bollwerk gegen rechts“ und sogar gemutmaßt, dass Kramp-Karrenbauer „das nicht überlebt“, wenn sie es nicht schafft, politisch so Druck auszuüben, dass die politischen Verhältnisse in Thüringen wieder „klar“ sind. Was für ein Krampf.
Eine weitere Frage, die sich angesichts des „Eklats“ in Thüringen die Medien ja durchaus stellen könnten wäre, ob die Demokratie grundsätzlich in Gefahr ist und wie man dieses Problem lösen könnte, doch es wird lieber lautes mediales Getöse gemacht, dass ja alles so schlimm ist, weil sich niemand in Thüringen an die Warnungen Kramp-Karrenbauers gehalten hat. Na sowas.
Es ist wichtig, sich bei jedem aktuellen Bericht zu fragen: Was wird nicht gefragt? Was steht nicht in dem Bericht? So kommt man auf die wesentlichen Fragen, die es zu stellen gilt.
Dann könnte man beim Coronavirus beispielsweise die Frage stellen, ob und wer von dieser Erkrankung profitiert, ob es Zusammenhänge mit Militärtechnologie gibt und warum in den Medien solche Fragen allerdings sofort wie im Stern als „absurde Verschwörungstheorien“ diffamiert werden, damit sich möglichst niemand mehr traut, Fragen zu stellen.
In einer Sendung mit Markus Lanz vom 04.02.2020 weist der Sozialpsychologe Harald Welzer im Zusammenhang mit der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit bei Lebensmittelpreisen darauf hin, dass bei bestimmten politischen Themen, die Politik und Medien erreichen, so getan würde, als würde man die grundsätzliche Frage nach sozialer Gerechtigkeit stellen. In Wahrheit sei es aber so, dass die soziale Frage so gut wie nie auf dem Tisch sei. Wieso kann es sein, dass in einer der reichsten Gesellschaften sich viele Menschen keine guten Lebensmittel oder andere grundsätzlichen Dinge leisten können? Wer in Berlin oder anderen Großstädten mal U- und S-Bahn fährt, bekommt einen lebendigen Eindruck davon, wie es um die soziale Gerechtigkeit in diesem Land bestellt ist. Warum schafft eine reiche Gesellschaft es nicht, dafür zu sorgen, dass alle Mitglieder in ihr ein gutes Leben führen können?
Die Antwort macht Welzer klar (6): Diese grundsätzlichen Fragen werden weder in der Politik noch in den Medien überhaupt gestellt. Welzer sieht darin vor allem ein „Kulturproblem“. Gesellschaft müsse radikal neu gedacht werden. Doch weder Medien noch Politik haben ein Interesse daran.
Der Journalist Jürgen Todenhöfer bringt das Problem bereits im Titel seines 2019 veröffentlichten Buches „Die große Heuchelei. Wie Politik und Medien unsere Werte verraten“ (7) auf den Punkt.
Die hier analysierten Ausschnitte aus der aktuellen Medienberichterstattung geben Welzer und Todenhöfer recht. Die grundsätzlichen Werte wie Soziale Gerechtigkeit, Frieden, Demokratie, Meinungs- und Pressefreiheit stehen nur zum Schein auf der medialen und politischen Agenda und werden damit verraten und verkauft.
Quellen:
- https://www.tagesschau.de/ausland/assange-aufruf-101.html
- https://www.rubikon.news/artikel/der-kollateral-mord
- https://www.sueddeutsche.de/politik/thueringen-merkel-kemmerich-wahl-fdp-afd-1.4787003
- https://www.tagesschau.de/inland/thueringen-fdp-cdu-103.html
- https://mobil.stern.de/amp/gesundheit/coronavirus–diese-absurden-verschwoerungstheorien-kursieren-9114612.html
- https://www.youtube.com/watch?v=q6rzYMUmmnc
- https://www.buchkomplizen.de/Alle-Buecher/Die-grosse-Heuchelei-oxid.html?listtype=search&searchparam=J%C3%BCrgen%20Todenh%C3%B6fer
Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung.
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Bildhinweis: Ozerov / Shutterstock
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