Ein Kommentar von Susan Bonath.
Der Herbst ist da, die Nächte werden kalt. Die Obdachlosen rücken in den Fokus. Ihre Zahl in Deutschland wächst. Verbände schätzen sie inzwischen auf eine halbe Million. Das sind in etwa so viele Menschen, wie insgesamt in Hannover leben. In jeder größeren Stadt kampieren sie – unter Brücken, in Bahnhofshallen, in Parks. Sie stören die gesittete Gesellschaft. Zum Beispiel in Berlin-Mitte, im Tiergarten.
Die Zustände in der Parkanlage werden schlimmer. So schlimm, dass der grüne Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel am Wochenende Alarm schlug. Wohl 60 Obdachlose kampierten inzwischen dort. Andere sagen, es seien mehr. Alkohol, Drogen, Prostitution – nicht nur das Grünflächenamt, auch die Polizei sei überfordert, klagte von Dassel.
Zu schaffen machten den Beamten vor allem wachsende Aggressionen. Deutsche Obdachlose pöbelten sie an, sie wollten mit dem »Scheiß Jobcenter-System« nichts zu tun haben. Osteuropäische Obdachlose – die Mehrheit – reagierten »aggressiv auf alles, was in ihre Nähe kommt«. Letztere haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Vor einem Jahr erwischten Mitarbeiter des Ordnungsamtes sie beim Verzehr wilder Schwäne.
Von Dassel plädiert – entgegen der Leitlinie seiner Partei – für schnelles Abschieben. Denn Platzverweise wirkten nicht. »Dann sind sie in zwei Stunden wieder da«, monierte der Politiker. Genau, wo sollen sie auch hin? Zurück nach Bulgarien oder Rumänien, wo es ihnen nicht besser gehen wird? Sollen sie Selbstmord begehen?
Es gibt zu wenig Notschlafstätten. Nicht nur in Berlin. Viele Unterkünfte nehmen keine EU-Ausländer auf. Denn das Sozialamt zahlt die Unterbringung für sie nicht. Menschen, die nicht krankenversichert sind, erhalten weder ärztliche noch therapeutische Hilfe. Dabei seien viele Obdachlose nicht nur überfordert, sondern krank, körperlich wie psychisch, sagte Dieter Puhl von der Bahnhofsmission der Berliner Zeitung. »Campen im Tiergarten ist ja nicht Ausdruck von Freiheit, sondern Synonym von Hilflosigkeit.«
Viele könnten gar nicht mehr arbeiten, so Puhl. Ohne Arbeit haben sie kein Geld. Ohne Geld kein Essen, keine Kleidung. Sie werden notgedrungen kriminell. Aggressive Bettelbanden, Diebstähle, Raubüberfälle sind die Folge. Ausgrenzung macht aggressiv. Eine endlose Spirale.
Natürlich: Man kann die wohnungslosen Osteuropäer einfach abschieben, gewaltsam, wenn es sein muss – für Ruhe, Ordnung, Sicherheit. Den Anwohnern wäre geholfen. Die sozialen Verwerfungen indes werden verlagert – eine Strategie auf Zeit. Denn viele werden wiederkommen. Wer nur durch Betteln oder Stehlen überleben kann, geht dorthin, wo es am meisten zu holen gibt: Ins EU-Wirtschaftswunderland BRD.
Es ist der Kapitalismus, der soziales Elend produziert. Das tat er schon immer. Doch mit fortschreitender Krise des Systems dringt das Elend immer tiefer in die imperialistischen Zentren ein. Das ist die andere Seite des sich stets in wenigen Händen akkumulierenden Reichtums. Wo die Wirtschaft global agiert, kann die nicht dauerhaft ausgegrenzt werden.
Die Obdachlosencamps, Bettelbanden und Flüchtlinge in Berlin, München, Frankfurt, Dresden und überall in Deutschland konfrontieren uns mit dieser dunklen Seite unseres Systems. Die lässt sich nicht ausschließen, nicht einsperren, nicht abschieben. Und sie lässt sich mit kapitalistischen Mitteln nicht aus der Welt schaffen. Es wird sie geben, solange niemand dafür sorgt, dass die Wirtschaft zum Gemeingut wird und kein einzelner sich daran dumm und dämlich verdienen kann.
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