Ein Kommentar von Susan Bonath.
Das Mittelmeer ist ein Massengrab. In diesem Jahr sind schon mehr als 1.000 Menschen darin ertrunken. Die meisten von ihnen hatten ein monatelanges Martyrium in einem libyschen Lager durchgemacht. Folter, Hunger, Durst und Tod hatten Narben an Körper und Seele hinterlassen. Viele hätten ihr Leben noch vor sich gehabt. Sie waren vor dem grassierenden Elend in ihren Heimatländern geflohen, auf dem der Wohlstand in den Industrienationen beruht. Nun liegen Ihre Leichen im Meer. Manche spült die Brandung irgendwann an.
Doch retten ist verboten. Schiffe dürfen fast nirgendwo in Europa mehr einlaufen. Einzig Barcelona im spanischen Katalonien machte zuletzt eine Ausnahme. In Malta steht ein deutscher Kapitän vor Gericht, weil er 234 Menschen vor dem Ertrinken bewahrt hat. Er weint, spricht von einem jungen Mann, der lieber ins Meer gesprungen wäre, als zurück zu müssen, von erschöpften traumatisierten Kindern und ihren Müttern.
Retten ist verboten. Die EU wird zur Festung, um die Opfer ihrer vollen Supermarktregale auszusperren. Politiker, auch in Deutschland, sprechen über sie, als handele es sich um Abfall. Es geht nicht mehr um Menschen, die leben wollen, sondern »illegale Wirtschaftsflüchtlinge«. Zeitungsberichte erinnern an die Hetze des Stürmers gegen Juden. Eine wachsende Masse in der Bevölkerung johlt die Hassparolen nach.
Lassen wir sie im Meer ersaufen, in der Wüste verdursten oder in Libyen massakrieren? Wo internieren wir sie? Wie weit kann man ihnen das Essen kürzen? Sind sie selbst schuld an ihrer Lage? Burkinis bestimmen Titelseiten. Emanzipation scheint für manchen bierbäuchigen Alemanen die Garantie fürs Aufgeilen an Frauenkörpern in Freibädern zu sein. Mit Pornovideos mit dunkelhäutigen Hauptdarstellern kennt er sich aus. Hauptsache, kein Afrikaner oder Araber stört sein Wohlstandsgefühl. Es ist widerlich.
Fremdenhass, Sozialdarwinismus und eine perverse Empathielosigkeit brechen sich zusehends Bahn. Die politischen Entscheider machen es vor. Als überflüssig empfundene Menschen werden zum Freiwild erklärt. Töten durch Unterlassen wird nicht nur straffrei gestellt. Bestraft werden heute jene, die für überflüssig erklärte Menschen retten. Die hässliche Fratze des imperialistischen Systems liegt offen da. Verfassungen, Menschenrechtserklärungen und das deutsche Grundgesetz, wonach alle Menschen gleichwertig seien, verkommen zur hohlen Phrase. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Gruppe der Geächteten wächst.
Die Perversion liegt in massenhafter emotionaler Abstumpfung. Selbst angeblich »Linke« zeigen dies. Unter vorgeblich guten Gründen – nämlich die einheimischen vor ausländischen Abgehängten zu schützen – fordern sie vom Staat martialischen Grenzschutz. Das Problem bleibt bestehen: Die Leute fliehen. Die Leute folgen dem Strom der Waren, die zuvor in großen Teilen von ihnen abgepresst wurden. Sie haben lebensgefährliche Wege auf sich genommen und stehen da. Wer sie abweist, wer sie kriminalisiert, muss sich über eins klar sein: Er plädiert letztendlich für Massenmord.
Da helfen alle Erklärungsversuche nichts. Dass die Kapitalisten nichts lieber als billige Arbeitskräfte haben, mit Hilfe derer sie ihre Profite maximieren können, steht außer Frage. Die These vom teuflischen Plan einer Finanzelite, dafür massenhaft arme Schlucker ins imperialistische Zentrum Deutschland zu locken, ist dennoch nicht haltbar. Sie hätten einfachere Möglichkeiten. In der Ukraine oder Moldawien, in Bulgarien oder Polen, in Rumänien oder weiten Teilen Südeuropas stünden massenhaft billige Arbeitsmigranten zur Verfügung. Das aber erschwert die Politik jedoch bewusst mit rigiden Gesetzen.
Auch kann das Großkapital nach Belieben expandieren. Arbeitskräfte in Afrika lassen sich nun mal brutaler ausbeuten als in Deutschland. Die Flucht von Abertausenden Menschen erschwert diese Form der Unterdrückung vielmehr. Ist ein Land politisch und wirtschaftlich zerrüttet und leidet es unter Bürgerkriegen, wird es schwieriger, die dort vorkommenden Rohstoffe effizient zu plündern.
Natürlich: Der Zugzug von Flüchtlingen verschärft die Konkurrenz am Arbeitsmarkt. Das ist immer positiv für Ausbeuter. Davon betroffen sind allerdings vor allem die Menschen, die im Niedriglohnsektor konkurrieren. Umfassend ausgeweitet wurde der jedoch nicht durch Migration, sondern die repressiven Hartz-Gesetze. Mit der Agenda 2010 baute Deutschland nicht nur massiv Arbeitsrechte ab und senkte die gesetzliche Rente. Mittels härtester Sanktionen zwingt man Erwerbslose dazu, jeden Job zu jedem Lohn anzunehmen. Genau dies war das Ziel. Altkanzler Gerhard Schröder sprach schon 2003 in Davos ganz offen darüber.
Es ist ein Ammenmärchen, zu glauben, durch dichte Grenzen ginge es den deutschen Abgehängten besser. Und mal ehrlich: Seit wann macht sich der deutsche Mittelstand Gedanken um die Armen?
Das Problem bleibt: Die Menschen kommen und wir haben die Wahl: Entweder mutieren wir zu gefühllosen Robotern und treiben sie ins Elend zurück oder in den Tod. Oder wir bestehen auf der Einhaltung von Menschenrechten. Denn wie zu erleben ist, bietet der globale Kapitalismus keine Lösung. Das Kapital folgt strikt der Profitlogik. Aus Geld muss immerfort mehr Geld werden. Der Kapitalist ist dem daraus folgenden unendlichen Wachstumszwang unterlegen. Spielt er nicht mit, verliert er. Das ist automatisch mit wachsender Ausplünderung von Mensch und Umwelt verbunden.
Noch mal: Der Kapitalismus mit seinem Privateigentum an Produktionsmitteln und seinen Staaten, welche die Kapitalverwertung managen, bietet keine Lösung. Unternehmer werden weiter Waffen liefern, wenn sie damit genug Profit einfahren. Oligarchen werden in wirtschaftlich wie staatlich zerrütteten Ländern weiter um die Macht ringen, eigene Truppen anheuern, Bürgerkriege anzetteln und dafür Waffen kaufen. Das Ringen um ökonomische Macht in diesem globalen System hat viele Gesichter. Und Hilfe vor Ort? Gibt es kaum.
Dieses Dilemma können viele nicht ertragen, zumal wir alle – wenngleich zuweilen unfreiwillig – daran beteiligt sind. Wir wissen und verdrängen es. Wir fordern unmenschlichste Lösungen, die keine sind. Wir reden im Konjunktiv über Hilfen vor Ort, die es nicht gibt und die nicht geplant sind. So werden wir zum Steigbügelhalter der Herrschenden, zum Garant für das Weiter so in immer brutalerer Weise.
Der Schalter zur globalen Umkehr liegt in einer Änderung der Produktionsverhältnisse. Ressourcen, Betriebe und Konzerne gehören gemeinschaftlich verwaltet, die staatlichen Herrschaftsinstrumente entmachtet. Ansonsten gefährdet die private kapitalistische Vernichtungsmaschine unser aller Lebensgrundlagen. Dichte Grenzen und bewaffnete Truppen werden sie nicht stoppen.
+++
Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
+++
KenFM bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Meinungsartikel und Gastbeiträge müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
+++
Alle weiteren Beiträge aus der Rubrik „Tagesdosis“ findest Du auf unserer Homepage: hier und auf unserer KenFM App.
+++
Dir gefällt unser Programm? Informationen zu Unterstützungsmöglichkeiten hier: https://kenfm.de/support/kenfm-unterstuetzen/
Kommentare (0)