Ein Standpunkt von Ulrich Teusch.
Man hat dem Kommunismus und anderen politischen Großideologien vorgeworfen, sie hätten ihre Bevölkerungen in Geiselhaft genommen und in gigantische, opferreiche und am Ende gescheiterte Sozialexperimente hineingepresst. Das ist wahr.
Aber die extremen politischen Ideologien stehen in dieser Hinsicht nicht allein. Auch andere haben sich – wenngleich nicht derart rigoros – immer wieder angemaßt, die Menschen zu ihrem Glück zu zwingen. So haben sich zum Beispiel auch die Apologeten des technischen Fortschritts des Öfteren darin gefallen, „Einzelschicksale einer höheren Berufung unterzuordnen“ (Dirk van Laak). Sie tun dies auch gegenwärtig wieder.
Unter dem Schlagwort „Great Reset“ (Großer Neustart) haben sie eine Rettungsaktion für den globalen Kapitalismus auf den Weg gebracht. Sie wissen nämlich, dass ein stupides „weiter so“ über kurz oder lang auf ein politisches, soziales und ökologisches Desaster zulaufen würde. Und damit wäre nicht nur das Überleben derer, die die Arbeit tun, gefährdet, sondern auch und insbesondere das der global agierenden Oligarchen.
Um die große Krise abzuwenden, kommen den Reset-Strategen kleinere Krisen jederzeit zupass. Denn Krisen – seien sie genuin, seien sie inszeniert – wirken wie Geburtshelfer oder Katalysatoren: sie ebnen den für erforderlich gehaltenen Transformationsprozessen die Bahn.
Auch wenn die aktuelle Rettungsaktion dem globalen Kapitalismus, und also einem ökonomischen System gilt, ist die Art und Weise, wie die Rettung ins Werk gesetzt wird, offensichtlich technischer Natur. Modernster Technik wird die Rolle einer universellen Problemlöserin zugedacht. Und die hinter dem „Great Reset“ sich verbergende Dystopie (von der wir aktuell im Rahmen der Coronakrise einen kleinen Vorgeschmack bekommen) ist die eines global ausgreifenden technokratischen Autoritarismus.
Es geht nicht länger um Freiheit und Demokratie, nicht länger um westliche Werte, auch nicht um das wie auch immer geartete gute Leben – es geht vielmehr um das Überleben eines Systems, das sich grundlegend ändern muss, damit alles so bleiben kann, wie es ist. Und es geht – vor allem – um das Überleben derer, die sich an den Schalthebeln des Systems wähnen.
Ja, die Apologeten des „Great Reset“ wähnen sich bloß an den Schalthebeln. Sie gehen von falschen Voraussetzungen aus. Weil sie im globalen System fraglos einen höchst komfortablen Platz einnehmen, sind sie der Illusion verfallen, sie könnten das System als solches steuern. Doch das können sie nicht.
Schon Ende der 1980er Jahre hat der renommierte Kernphysiker und Sozialphilosoph Hans-Peter Dürr (1929-2014, seinerzeit auch Wortführer technikkritischer sozialer Bewegungen) eine nüchterne Analyse der Bedingungen vorgetragen, mit denen gestalterisches politisches Handeln in hoch entwickelten Gesellschaften konfrontiert ist. Er bezog sich primär auf die Verhältnisse in Deutschland; was er sagte, trifft jedoch ebenso und in noch weit stärkerem Maß auf die globalen Handlungsbedingungen zu:
„Bei allen Fragen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen sollten wir uns davor hüten, die Probleme statisch zu betrachten. Es reicht nicht aus (…), sich abstrakt eine Ideallösung zu überlegen, und dann lauthals danach zu rufen, daß irgend jemand einen verborgenen Schalter betätigen soll, der die vorgegebene mangelhafte Situation in die gewünschte Idealsituation verwandelt. Solche Globalschalter gibt es nicht, und schon gar nicht die Personen oder Instanzen, so mächtig sie manchmal erscheinen, die sie bedienen könnten.
Gesellschaft und Wirtschaft sind große, hochkomplexe Systeme, die aufgrund ihrer inneren Verhaltensmuster und Mechanismen eine enorme Eigensteuerung entwickelt haben. Die vermeintlich Agierenden sind durch die vielfältigen Sachzwänge des Systems weitgehend zu Reagierenden geworden. (…) Das Problem in einer solchen Situation ist also nicht: Wer steuert wen oder was wohin? Das Problem ist zunächst, das System überhaupt steuerbar zu machen.“
Absehbares Scheitern
Vielen Menschen gilt „The Great Reset“ als bedrohliche, beängstigende Entwicklung. Aus gutem Grund. Jedoch: Die Aktivitäten der Reset-Strategen sind nicht etwa deshalb furchteinflößend, weil die Aussicht bestünde, dass sie ihre hochgesteckten Ziele tatsächlich erreichen. Im Gegenteil, der Neustart ist zum Scheitern verurteilt. Doch das ist – leider – nur ein schwacher Trost.
Denn man muss davon ausgehen, dass seine Promotoren trotz des absehbaren Fiaskos entschlossen sind, das große Wagnis einzugehen, also die in Aussicht genommenen globalen Transformationsprozesse tatsächlich zu realisieren. Falls es nicht gelingt, diesem Unterfangen rechtzeitig Einhalt zu gebieten, wird der „Great Reset“ auf diesem Planeten eine Spur der Verwüstung hinterlassen.
Warum glaube ich, dass das große Projekt scheitern wird? Es wird scheitern, weil es zwar auf die forcierte technische Zurichtung der Welt setzt, aber einem inadäquaten Technikverständnis folgt. Die Technik wird die ihr zugedachte Rolle nicht spielen und nicht spielen können. Die Protagonisten des „Great Reset“ erinnern in ihrer Naivität an Zukunftspropheten vom Schlage Herman Kahns und anderer („Ihr werdet es erleben“), die in den 1960er und 1970er Jahren mit frappierender Selbstsicherheit erklärten, wie „die Welt von morgen“ aussehen werde.
Sie taten es, indem sie technische Entwicklungen, manchmal auch nur bloße technische Möglichkeiten, schlichtweg in die Zukunft projizierten. Sie erweckten den Eindruck, technische Innovationen ließen sich bruchlos, ohne überraschende Nebenwirkungen, eins zu eins in die Realität umsetzen.
Das hat nie funktioniert – und es wird nie funktionieren. Was nicht heißen soll, dass die Technik etwa keine weltverändernde Kraft wäre. Sie ist es zweifellos – aber sie ist es nur selten im Sinne ihrer Erfinder. Wer an einer realistischen Einschätzung interessiert ist, wird daher etwas tiefer graben müssen:
Er wird sich (1) mit dem komplexen Verhältnis von Technik, Gesellschaft und Natur beschäftigen, (2) die inzwischen erreichte systemische Qualität von Technik näher analysieren, (3) sich der fundamentalen Ambivalenz von Technik bewusst werden sowie (4) die Eigendynamik des Technisierungsprozesses in Rechnung stellen.
In diesem und im nachfolgenden Beitrag werde ich die gerade genannten Aspekte näher beleuchten. Meine These lautet: Die moderne Technik ist nicht die große Problemlöserin, als die sie derzeit vielfach gehandelt wird, sondern ebenso sehr und vermutlich in stärkerem Maße eine Problemerzeugerin. Sie wird niemanden aus der Krise herausführen, sondern uns alle tiefer in die Krise hinein.
Weiter Technikbegriff
Man wird moderne Technik (also jene Technik, die sich seit der ersten Industriellen Revolution beschleunigt entwickelt hat) nur adäquat erfassen können, wenn man einen weiten Technikbegriff präferiert. Ein weites Technikverständnis umfasst nicht lediglich „Realtechnik“ (also materielle Technik, Artefakte), sondern immer auch immaterielle Technik. Am Beispiel: Nicht nur die Produktionsanlage einer Fabrik ist eine Technik, sondern auch die Organisation des Produktionsprozesses, nicht nur die Hardware eines Computers, sondern auch seine Software.
Das übergreifende Merkmal oder Prinzip, das materielle und immaterielle Dimensionen von Technik zusammenfließen lässt, ist das der Effizienzsteigerung. Hatten in vormodernen Zeiten viele Faktoren Beachtung gefunden, wenn die Frage nach der sozialen Akzeptanz von Technik anstand, ist in unserer Zeit das Kriterium der Effizienzsteigerung ausschlaggebend geworden.
Ob technische Innovationen ästhetisch zufriedenstellen, ob sie sich mit religiösen Überzeugungen oder kulturellen Überlieferungen vertragen, ob sie sich mit den gegebenen rechtlichen Normen oder politischen Rahmenbedingungen kompatibel erweisen – all dies mag in vormodernen Zeiten eine wichtige Rolle gespielt haben, erweist sich aber heutzutage als (meist ohne große Mühe) überwindbares Hindernis, wenn die überlegene technische Effizienz außer Zweifel steht.
Selbstverständlich bedarf jedes effizienzsteigernde Handeln eines Bezugspunkts. Es gibt keine „Steigerung der Effizienz an sich“. In jedem Handlungsfeld kann Effizienzsteigerung somit etwas anderes bedeuten. Entscheidend ist jedoch der Bezugspunkt nur dann, wenn er sich dem effizienzsteigernden Zugriff prinzipiell entzieht.
So wäre es beispielsweise abwegig, die Effizienz einer japanischen Teezeremonie oder eines religiösen Rituals steigern zu wollen. Wohl aber ist es sinnvoll, die Effizienz eines Produktionsvorgangs zu steigern oder die Effizienz der Bürokratie oder die Effizienz eines Lernvorgangs oder die Effizienz der Machtausübung. In jedem Fall ist das Ergebnis messbar, und in jedem Fall ist der Vorgang der Effizienzsteigerung das Wesentliche.
Es gibt inzwischen kaum noch einen gesellschaftlichen Handlungsbereich, der sich dem Prinzip der Effizienzsteigerung entzieht, entziehen kann oder (rückblickend) entzogen hat. Die Orientierung am Prinzip der Effizienzsteigerung hat sich verallgemeinert, das Prinzip hat sich verselbständigt. Da Effizienzsteigerung mit Technisierung gleichzusetzen ist, kann man folglich von einer Technisierung aller Lebensbereiche und einer Verselbständigung des Technisierungsprozesses sprechen.
Technik als System
Einzelne Techniken oder technische Systeme führen keine monadenhafte Existenz. Sie sind allesamt Teil größerer technischer Zusammenhänge. Nehmen wir ein unverdächtiges Beispiel: das Automobil. Auf den ersten Blick ist das Auto eine Einzeltechnik, ein vergleichsweise kleines, flexibles, unabhängiges technisches System. Doch es bedarf, um funktionsfähig zu sein, komplexer, global vernetzter Infrastrukturen:
Straßen, Parkplätze und -häuser, Tankstellen, Werkstätten, Händlerketten, Produktionsanlagen, Zulieferindustrien, Erdöltransporte, Raffinerien, Entsorgungseinrichtungen. Seine Nutzung ist auf rechtliche und organisatorische Rahmenbedingungen und deren Kontrolle angewiesen: Fahrschulen, Fahrprüfungen, Straßenverkehrsordnungen, auf Verkehrsrecht spezialisierte Juristen, Verkehrspolizei, Rettungsdienste, Unfallmedizin, Verkehrsnachrichten, Verkehrsplanung, Verkehrspsychologie, Versicherungen. Es schafft manifeste volkswirtschaftliche Abhängigkeiten, verändert sozialräumliche Strukturen und es belastet die Umwelt. Es gilt als Hauptverursacher eines bevorstehenden und stellenweise schon eingetretenen Verkehrsinfarkts. Es befördert die Entstehung eines Autokults oder von Autoideologien und -mythen, wie sie sich in Automobilausstellungen, Autozeitschriften, Automobilclubs, Autorennen oder der Autowerbung zu erkennen geben. Und schließlich ist das Auto selbst in eine übergreifende Verkehrsinfrastruktur mit weiteren Fortbewegungsformen integriert: Schienen-, Luft- und Wasserverkehr, Radfahrer und Fußgänger.
Das Verkehrssystem ist keineswegs das einzige technische Netzwerk dieser Art. Auch das System der Stromversorgung, oder umfassender: das System der Energieversorgung, gehört dazu, das militärische Sicherheitssystem, das Telekommunikationssystem, das System der Wasserversorgung, der Massenmedien. Auch hinter auf den ersten Blick unscheinbaren Techniken verbergen sich ausgeklügelte Systeme – man denke etwa an zeitgenössische Identitätspapiere. Systeme, die zunächst getrennt voneinander entstanden sind, können zusammenwachsen, konvergieren; dies gilt zum Beispiel für die Verschmelzung von Datenverarbeitung und Telekommunikationstechnik.
Stellt man die Frage, in welchem Verhältnis die Systeme zueinander stehen, reflektiert man insbesondere darüber, was geschieht, wenn eines dieser Systeme ausfällt, stellt man fest, dass sie in hohem Grade voneinander abhängig sind. Fällt die Stromversorgung für längere Zeit aus, helfen zwar zunächst Notstromaggregate, doch wenn deren Energievorrat erschöpft ist, droht der Zusammenbruch des Gesamtsystems: der Telekommunikation, der Eisenbahnen, der Wasserversorgung. Der längere Ausfall eines dieser Systeme hätte insbesondere in hoch technisierten Gesellschaften katastrophale Folgen. Diese Gesellschaften sind von funktionierender Technik, von funktionierenden und ineinander greifenden technischen Systemen existenziell abhängig.
Sämtliche bislang erörterten Techniken und technischen Systeme gehen in diesem alles übergreifenden technischen Zusammenhang auf, einem „System der Systeme“. Es hat inzwischen eine geradezu Schwindel erregende Komplexität erreicht, und obwohl es in den hoch technisierten Gesellschaften zweifellos enger gekoppelt und besser entwickelt ist als in anderen Teilen der Welt, breitet es sich immer stärker und mit einer gewissen Zwangsläufigkeit global aus – mit der Folge, dass die Abhängigkeit von funktionierender Technik überall wächst und die Folgen einer Systemstörung oder eines Systemausfalls überall schwerste Folgen hervorrufen würden.
Denkt man in Kategorien des technischen Systems, wird man kaum noch behaupten können, die Technik sei ein Mittel oder ein „bloßes Mittel“ zur Erreichung der vom Menschen autonom gesetzten Zwecke. Weit eher müsste man von der Autonomie, also dem selbstbezüglichen, eigengesetzlichen und eigendynamischen Fortschreiten des technischen Systems sprechen.
Teil 2 des Beitrags folgt in Kürze
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Danke an den Autoren für das Recht zur Veröffentlichung.
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Dieser Beitrag erschien zuerst am 13. Januar auf dem Medienportal Multipolar
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