Ein Standpunkt von Hauke Ritz.
In unserer Zeit erscheinen gänzlich neue Technologien am Horizont der Geschichte, die von der Revolution der Gentechnik bis zur sogenannten „künstlichen Intelligenz“ reichen. Einerseits erscheint die Entwicklung der Technik unausweichlich. Andererseits weist die technische Revolution, der wir speziell heute gegenüberstehen, Merkmale auf, die das Selbstverständnis unserer Zivilisation mehr noch als vorangegangene technologische Umbrüche herausfordern. Bringt eine Naturwissenschaft, die die Freiheit des Menschen leugnet, am Ende mit Notwendigkeit eine Technologie der unfreien Welt hervor?
Im Folgenden soll die Frage aufgeworfen werden, inwiefern die aktuelle technische Entwicklung eine Vorgeschichte hat. Eine Vorgeschichte, die uns helfen könnte, die Entwicklungslogik der Naturwissenschaft (1) insgesamt und somit auch des durch sie ausgelösten technischen Fortschritts besser zu verstehen. Letztlich geht es um die Frage, ob die Begründung des neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Weltbildes in seinen verschiedenen Phasen von der Renaissance über die Aufklärung bis zur Industrialisierung nicht möglicherweise Prinzipien festgelegt hat, die seither die Bahn des technischen Fortschritts bestimmt haben und die somit auch mit einer gewissen Notwendigkeit zu der aktuellen technologischen Revolution führen mussten.
Der technologische Umbruch unserer Gegenwart
Die hier aufgeworfene Frage ist an sich nicht neu und wurde bereits früh artikuliert. So gab es in der deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf die Katastrophenerfahrungen der modernen Welt – insbesondere als Antwort auf die Existenz des Holocausts und die Erfindung der Atombombe – eine Diskussion darüber, ob es einen Zusammenhang gäbe, zwischen der Entstehung und allmählichen Entwicklung der Naturwissenschaften am Beginn der Neuzeit und den erwähnten zivilisatorischen Zusammenbrüchen im 20. Jahrhundert. Die Anfänge dieser Debatte begannen bereits kurz vor dem Ersten Weltkrieg (2) und ihre Ausläufer setzten sich bis zum Fall der Berliner Mauer fort. (3) Im Zentrum der damaligen Diskussion stand ein Unbehagen an der Moderne, ihrer Ambivalenz und ihrem zerstörerischen Potenzial. Es war der Siegeszug der Postmoderne – sowohl in Gestalt akademischer Theorien als auch als Lebensgefühl –, der diese Diskussion über die Grundlagen unserer Zivilisation für nahezu dreißig Jahre beendete. Doch die Umbrüche in unserer Gegenwart zwingen uns, diese Debatte wieder aufzunehmen.
Was hat die technologische Revolution der Gegenwart mit den vorangegangenen Innovationen gemeinsam und worin unterscheidet sie sich? Nahezu allen technischen Erfindungen liegt in der einen oder anderen Form die Verdichtung entweder von Raum oder von Zeit oder von beidem zugrunde. So haben zum Beispiel die Dampfmaschine und später der Verbrennungsmotor sowie die Nutzbarmachung der Elektrizität sowohl den Raum als auch die Zeit enorm gerafft und verkleinert.
Im Unterschied zum 19. Jahrhundert werden heute jedoch neue Technologien wesentlich schneller entwickelt und eingeführt. Es gibt heute quasi keine Übergangszeiten mehr. In der globalisierten Welt treten neue technische Entwicklungen fast instantan und im weltweiten Maßstab in Erscheinung und zwingen verschiedenen Kulturen ihre inhärenten Prinzipien auf. Oft sind diese impliziten Konsequenzen technischer Neuerungen von Seiten der technologisch führenden Weltmacht kulturell vordefiniert. So haben das Internet und das Smartphone viel dazu beigetragen, den Individualismus amerikanischer Prägung in der Welt zu verbreiten.
Im Zuge der gegenwärtigen technischen Revolution kommt allerdings noch ein weiterer Aspekt hinzu. Die neuen Technologien, mit denen wir speziell heute konfrontiert sind, weisen ein entscheidendes Merkmal auf, welches in vorangegangenen Technologiezyklen zwar bereits angelegt, aber nicht so deutlich ausgeprägt war. Diese neuen Technologien ermöglichen nämlich eine nie zuvor dagewesene Zentralisierung von Information, was wiederum weitreichende politische Implikationen in sich birgt.
Das Beispiel hierfür ist die durch das Internet möglich gewordene Erhebung enormer Datenmengen. In Verbindung mit der Entstehung und Verbreitung von künstlicher Intelligenz sowie der flächendeckenden Installierung von 5G lässt das sogenannte Datamining eine Überwachungsgesellschaft möglich erscheinen, die noch vor einer Generation als phantastische Vorstellung eines Science-Fiction Romans gegolten hätte. Noch bedrohlicher wird diese Entwicklung, wenn man die sich anbahnende Entwicklung des Quantencomputers hinzurechnet, durch den die bislang schon gewaltigen Rechenkapazitäten ins ganz und gar Unvorstellbare gesteigert werden. Erstmals in der Geschichte der Menschheit können somit die Aktivitäten von Milliarden von Menschen an einem Ort erfasst, aufgezeichnet und durch Programme teils automatisch verarbeitet werden. Die Datenerfassung wies noch nie eine solche globale Reichweite und Genauigkeit auf. Und die Konzentration von Wissen führt fast zwangsläufig zu einer Konzentration von Macht. (4)
Verstärkt wird diese Tendenz noch durch die Fortschritte im Bereich der Gentechnik und der künstlichen Reproduktion. Auch diese Technologien, die gerade erst angefangen haben unser Leben zu revolutionieren, verweisen ihrer inhärenten Logik nach auf eine fortschreitende Zentralisierung von Wissen, Macht und gesellschaftlichen Beziehungen.
Zwar hatten die vorangegangenen technischen Revolutionen von der Dampfmaschine über den Verbrennungsmotor bis zur modernen Chemie das Zerstörungs- und Selbstzerstörungspotenzial der menschlichen Gattung ebenfalls enorm angehoben und sogar Weltkriege ermöglicht. Doch standen diese technischen Neuerungen nicht in einem prinzipiellen Gegensatz zu einer humanistischen Werteordnung. Es schien zumindest so, als ob die mit diesen Technologien bewirkten Zerstörungen mehr aus ihrer Verwendung, als aus ihrem Sein resultierten. Trotz der enormen Geschwindigkeit, die der technische Fortschritt bereits im 20. Jahrhundert aufwies, konnte man zumindest noch hoffen, dass die Technik früher oder später doch in den Dienst einer humanen Entwicklung gestellt werden könnte.
Der erste Einsatz von Atombomben über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki erschütterte dieses Vertrauen schlagartig. Erstmals wurde in einer neuen Technologie als solcher – und nicht nur in ihrer Verwendung – etwas Dämonisches sichtbar. Die Aufnahmen der menschlichen Schatten an den Ruinen, die der Atomblitz in Hiroshima hinterlassen hatte, wirkten ähnlich wie der spätere Bravo Test im Karibik Atoll Bikini wie eine Phantasmagorie der Hölle. Doch bald hatte man sich auch an diese neue Technologie gewöhnt. Und da der Nuklearkrieg ausblieb, stellte sich das Grundvertrauen in die Nützlichkeit des technischen Fortschritts vorerst wieder her. Lediglich im Widerstand gegen die Atomenergie lebte etwas vom anfänglich empfundenen Schrecken fort.
Durch die sich in unserer Gegenwart anbahnende Neugestaltung unserer Gesellschaften unter dem Einfluss von künstlicher Intelligenz, Datamining und 5G wird erneut der Verdacht geweckt, die Technik der modernen Welt könnte insgesamt auf einer Art faustischem Pakt beruhen. Die alten Ängste vor dem Dämon der Technik, die einst die Atombombe hervorgerufen hatte, sind erneut präsent. Und dies ist nicht unbegründet. Denn die aktuelle technische Revolution fordert die humanistische Werteordnung unserer Zivilisation tatsächlich tiefgreifend heraus, ja, sie ist mit dieser vielleicht ganz und gar unvereinbar. Nahezu alle gesellschaftlichen Beziehungen werden von der neuen Technologie verändert werden. Dort, wo die neuen Techniken bereits in den Alltag eingedrungen sind, werden bereits die Umrisse einer posthumanistischen Zivilisation sichtbar, worauf wir an anderer Stelle noch zurückkommen werden.
Man muss sich vor diesem Hintergrund vergegenwärtigen, dass die Werte des Humanismus weit mehr sind als lediglich die Kultur oder Ideologie einer bestimmten Epoche. Tatsächlich sind sie das Resultat einer langen kulturgeschichtlichen Entwicklung, welche zum einen aus der antiken griechischen Philosophie, aber vor allem aus der christlichen Prägung der europäischen Kultur hervorgegangen ist. Im Verlauf der Neuzeit wurde das christliche Menschenbild allmählich in die humanistischen Ideale der Aufklärung übersetzt, ohne dabei seine christliche Gestalt grundsätzlich zu verlieren. Die Aufklärung verhalf christlichen Wertvorstellungen selbst dann zu einer säkularen wie auch modernen Form, wenn sie implizit unter atheistischen Vorzeichen vertreten wurde.
So wurde aus der christlichen Gleichheit vor Gott im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts allmählich die von der Aufklärung vertretene Gleichheit vor dem Gesetz. Aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen wurde im Zuge der Moderne die Würde des Menschen abgeleitet und somit letztlich die Lehre von den Menschenrechten ermöglicht. Das Gebot der Nächstenliebe und die Soziallehre der Kirche begünstigten in der Moderne die Entstehung sozialer Utopien. Diese wiederum führten zu längeren politischen Kämpfen, die erst durch die Etablierung eines Sozialstaates vorerst abebbten.
Letztendlich waren sowohl das christliche Mittelalter als auch die humanistische Moderne darin einander verbunden, dass sie jeden Menschen als einzigartig ansahen. Dem Menschen wurde infolgedessen Verantwortungs- und Schuldfähigkeit zugesprochen. Dieses Menschenbild wurde in der Neuzeit zunehmend politisch ausgedeutet und so zur Grundlage aller politischen und gesellschaftlichen Utopien, die Europa von der Französischen Revolution bis zum Ende des Kalten Krieges prägen sollten. So modern die Moderne auch war, sie stand letztlich immer noch in der Kontinuität der abendländischen Überlieferungsgeschichte. Erst der Beginn der Postmoderne ab den 1970er/80er Jahren und dem damit verbundenen Lebensgefühl des Posthistoire lockert das Band, welches sogar noch die Moderne mit einer viel älteren Vergangenheit verknüpft hatte.(5)
Der heutigen von Algorithmen gesteuerten Datenüberwachung liegt dagegen ein gänzlich anderes Bild vom Menschen sowie ein gänzlich anderes Verhältnis zu seiner Geschichte zugrunde. Nämlich eines, welches den einzelnen Menschen nur noch als Gattungsexemplar ansieht, dessen Kaufverhalten, dessen Vorlieben und sogar geistige Entwicklung prinzipiell durch millionenfachen Vergleich prognostiziert werden kann. Die Bindung an die Überlieferungsgeschichte vergangener Generationen und Epochen ist innerhalb dieses Menschenbildes längst aufgegeben worden.
Vor diesem Hintergrund weisen die sich selbstreferenziell verstärkenden Echokammern des Internets auf eine Gesellschaft voraus, in welcher der Bildungsprozess jedes einzelnen Individuums schon von Kindheit an einer zunehmenden und weitgehend automatischen Erfassung und Beeinflussung von außen unterliegen wird. Menschliche Freiheit, im bisher verstandenen Sinne, ist unter diesen Bedingungen im Grunde genommen nicht mehr möglich.
All dieses bedingt, dass der Antagonismus zwischen technischer Entwicklung und Humanität heute mit einer Schärfe an uns herantritt, die weit über das hinausgeht, was uns einst das Aufkommen der Dampfmaschine und des Verbrennungsmotors sowie die Nutzbarmachung der neusten Entdeckungen in der Chemie oder in der Elektrotechnik abverlangte. Es muss deshalb gefragt werden, inwiefern diese technische Entwicklung mit dem Wesen und Geist der Naturwissenschaft selbst verbunden ist.
Die Prämissen des naturwissenschaftlichen Weltbildes
Die naturwissenschaftliche Methode wird allgemein als sachlich und neutral angesehen. Doch dabei wird leicht vergessen, dass auch die Naturwissenschaft wie alle geistigen Systeme letztlich auch auf spezifischen Grundannahmen fußt, die notwendigerweise eine bestimmte Wirklichkeit voraussetzen und eine andere ausschließen. Die Prämissen, auf denen die naturwissenschaftliche Methode beruht, lassen sich identifizieren. Dabei spielt es keine Rolle, welche Überzeugungen der einzelne Wissenschaftler selbst hat. Ob er in seinem privaten Leben religiös ist oder nicht, ob er humanistisch erzogen wurde oder nicht, ob er an die Freiheit des Menschen glaubt oder diese abstreitet. Entscheidend sind nur die grundlegenden Prinzipien der naturwissenschaftlichen Methode selbst, der jeder einzelne Wissenschaftler folgen muss, sofern er mit seinen Forschungen wissenschaftliche Anerkennung finden möchte.
Im Folgenden soll diesen Grundannahmen naturwissenschaftlichen Denkens nachgegangen werden. Dies geschieht in der Hoffnung, dass es möglich ist, hierdurch die Richtung des technologischen Fortschritts besser zu verstehen. Auf welchen Voraussetzungen beruht Naturwissenschaft im Allgemeinen? Was sind die Hintergrundannahmen naturwissenschaftlichen Denkens? Und welche Rolle spielen die Naturwissenschaften innerhalb der Neuzeit? In welchem Grade ist die Neuzeit durch den Siegeszug der Naturwissenschaften definiert?
In den zwei Jahrtausenden, welche zwischen der Blüte der griechischen Philosophie und dem Aufkommen der Naturwissenschaft in der Renaissance lagen, war es die Regel, dass jede Form von Gelehrsamkeit auf Ideen bezogen war und vor dem Hintergrund der etablierten Wissenstraditionen auch auf diese bezogen sein musste. Das Nachdenken über die Wirklichkeit war immer mit dem Versuch verbunden, ihr einen Sinngehalt zu unterstellen und diesen zu dechiffrieren. Die Wirklichkeit stand unter dem Vorbehalt einer Sinnannahme. Die Genialität eines Wissenschaftlers wie Galileo Galilei bestand darin, mit dieser Konvention gebrochen zu haben und die Realität zu untersuchen, ohne sich auf Ideen zu beziehen. Stattdessen betrachtete Galilei einfach nur die Phänomene der Realität so, wie sie sich darbieten und versuchte lediglich ihre Funktionalität zu begreifen.
Die bis dahin übliche Frage nach dem tieferen Grund und dem spezifischen Sein der Naturgesetze wurde dagegen fallen gelassen und die gesamte Autorität den empirischen Erscheinungen zugesprochen. (6) Der Verzicht auf die Erkenntnis von Ideen bewirkte, dass die Schöpfung in gewisser Weise entheiligt wurde. In der so profanierten Welt, in der die Phänomene nicht mehr auf Ideen zurückgeführt werden mussten, konnten die Naturwissenschaften unumschränkt operativ werden. Durch das Ausklammern der Sinnfrage und den Rückzug auf eine beschreibende und nachvollziehende Position wurden die Naturwissenschaften in die Lage versetzt, vergleichbare, aufeinander aufbauende und vor allem praktisch anwendbare Resultate zu liefern.
Ein weiteres wichtiges Element der naturwissenschaftlichen Methodik besteht darin, dass die Naturwissenschaften die einfache Erklärung vor der komplexen bevorzugen, ein Prinzip, welches bereits René Descartes in seiner Schrift „Abhandlung über die Methode richtig zu denken und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen“ von 1637 als die dritte Grundregel wissenschaftlichen Denkens definiert hat.
„Die dritte war, in meinem Gedankengang die Ordnung festzuhalten, dass ich mit dem einfachsten und leichtesten Gegenständen begann und nur nach und nach zur Untersuchung der verwickelten aufstieg, und eine gleiche Ordnung in den Dingen selbst anzunehmen, selbst wenn auch das Eine nicht von Natur dem Anderen vorausgeht.“ (7)
Der Vorteil dieser Methode liegt auf der Hand. Hochgeschraubten aber nicht beweisbaren Spekulationen wird dadurch der Boden entzogen. Zunächst muss die Forschung das Naheliegende und Einfache berücksichtigen, ehe sie zum Komplexen fortschreitet. Komplexe Phänomene sollen also zunächst auf relativ einfache Zusammenhänge zurückgeführt werden. Doch der Übergang vom sinnvollen Grundsatz zum Dogma ist fließend. Dogmatisch gewendet bedeutet dieselbe Forderung, dass eine Forschungsarbeit, um als wissenschaftlich zu gelten, das Komplexe auf das Einfache zurückführen muss. Indem man aber das Komplexe stets auf etwas Einfaches zurückführt, erscheint es am Ende selbst als etwas Einfaches.
So wird zum Beispiel in der Evolutionstheorie die Komplexität des Lebens durch den Konkurrenzkampf der Arten erklärt und somit auf den Mechanismus einer natürlichen Zuchtwahl zurückgeführt. Sigmund Freud wiederum versucht komplexe Probleme der menschlichen Psyche, die ja letztlich auch geistiger Natur sind, aus Trieben, insbesondere dem Sexualtrieb abzuleiten. Nun ist Freuds Theorie, trotz der reduktionistischen Ansätze, die sie bereits enthält, noch zwischen Natur- und Geisteswissenschaft angesiedelt. Die zeitgenössische Psychologie hat sich als Naturwissenschaft neu definiert, wodurch die Tendenz das Komplexe auf Einfaches zurückzuführen sich noch verstärkt hat. Selbst im Gebiet der Ästhetik, traditionell den Geisteswissenschaften zugehörig, wurde Versuche unternommen den Reduktionismus der Naturwissenschaften zu kopieren. So haben vereinzelt Theorien der Ästhetik den Versuch unternommen das Phänomen der Kunst als Form des Zeichengebrauchs mit den Mitteln der Semiotik (8) zu erklären. Oder sie legten nahe, dass das Kunstwerk letztlich durch die im Laufe der Kunstgeschichte entstandenen Konventionen ermöglicht worden sei und folglich auch auf diese zurückgeführt werden könnte. (9)
Reduktionistische Theorieansätze dieser Art dünken sich überlegen gegenüber solchen, die noch einen Sinngehalt im Kunstwerk aufsuchen. Es gibt zwar viele Beispiele, anhand derer die Herleitung des Komplexen aus dem Einfachen gelungen erscheint, dennoch muss man fragen, ob der Reduktionismus der naturwissenschaftlichen Methode und seine Übertragung auf bestimmte Bereiche der Geisteswissenschaften nicht dazu tendiert, die Welt insgesamt zu vereinfachen. Ob dieser Grundsatz nicht impliziert, die Existenz von etwas Hohem und Komplexem an sich zu leugnen. Wenn beispielsweise der Mensch lediglich vom Affen abstammt, wie die Evolutionstheorie nahelegt, dann wird dadurch indirekt unterstellt, dass der Mensch nur ein etwas klügerer Affe ist, wodurch wiederum dem Mysterium der menschlichen Existenz, welches die Theologie und Philosophie über so viele Jahrhunderte beschäftigt hat, der Boden entzogen wird.
Diese Problematik wird noch durch einen weiteren methodischen Aspekt der Naturwissenschaften verstärkt. Nämlich durch ihre Tendenz, die Realität zu erkennen, indem sie die Phänomene zergliedern und in ihre Einzelelemente zerteilen. In der bereits erwähnten Abhandlung des Descartes „Über die Methode richtig zu denken und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen“ wird dieses Vorgehen als zweiter Grundsatz benannt. (10) Die naturwissenschaftliche Methodik versucht die Phänomene zu verstehen, indem man sie in ihre einzelnen Komponenten zerlegt, um dann rückwirkend ihr Zusammenwirken zu verstehen. Die Gegenposition zu diesem Vorgehen lautet, dass das Ganze mehr ist als seine Einzelkomponenten. Dass also jede Gestalt eine eigene Wirklichkeit besitzt, die durch die Zergliederung in Einzelelemente gerade nicht erkannt, sondern nur zerstört werden kann.
So lässt sich ein Musikstück schwerlich anhand der einzelnen Noten erkennen, ein Roman schwerlich anhand seiner einzelnen Kapitel, wohl aber anhand des Formverlaufs in dem sowohl die Noten als auch die Kapitel stehen. Erst durch das Gefüge, in dem die Phänomene sich befinden, tritt die Gestalt hervor, welche in den Einzelelementen selbst nicht enthalten ist. Doch die Vorstellung, dass das Ganze mehr ist als seine Teile, wird von den Naturwissenschaften in der Regel nicht verfolgt. Man geht stattdessen davon aus, dass das Ganze nur die Summe der Einzelkomponenten sei und sein könne und darin vollständig aufgehe. Der Mensch ist zum Beispiel im naturwissenschaftlichen Weltbild die Summe der Funktion seiner Organe, weshalb nach diesem Weltbild der Austausch einzelner Organe im Zuge einer Organtransplantation durchaus vertretbar erscheint. Im wirklichen Leben ist die Organtransplantation jedoch ein hochgradig ambivalenter Vorgang, deren Problematik bestehen bleibt, auch wenn diese im Horizont der Naturwissenschaften gar nicht mehr gedacht werden kann.
Die Methode der Zergliederung dient den Naturwissenschaften letztlich dazu, die zugrundeliegende Kausalstruktur der Phänomene freizulegen. Durch das Zerlegen in Einzelkomponenten wird am Ende eine Art Funktionsskelett freigelegt. Dieses Funktionsskelett ist jedoch wieder nicht das ganze ungeteilte Phänomen, sondern lediglich eine reduktionistische Struktur, die gerade durch das Abschneiden des Komplexen und Lebendigen isoliert werden konnte.
Die rein funktionale Orientierung der Naturwissenschaften ermöglicht es ihnen, bereits die bloße Kausalbeziehung zwischen einzelnen Elementen als Erkenntnis anzusehen. Sobald lebendige und vielschichtige Phänomene in eine abstrakte und funktionale Kausalkette übersetzt worden sind, gelten sie den Naturwissenschaften bereits als erkannt. Im Extremfall gilt ein Phänomen sogar bereits als verstanden, wenn eine mathematische Formel gefunden werden kann, die seine Funktion modellieren kann.
Dass das eigentliche Sein und Wesen einer Sache durch eine solche Reduktion mitnichten erkannt ist, wird dabei meist vergessen. Diese Entwicklung setzt bereits mit Galileo Galilei ein, nimmt im Verlauf der Neuzeit beständig zu und hat in unserer Gegenwart ihren bisherigen Höhepunkt erreicht. So beruhen in der modernen Physik viele Einsichten fast gänzlich auf mathematischen Modellen. Man denke etwa an die Urknallforschung, die sich auf ein in unvorstellbar zeitlicher Tiefe liegendes Ereignis bezieht, welches nicht mehr beobachtet und nur noch errechnet werden kann und doch als etwas behandelt wird, dessen Existenz bereits bewiesen sei. Das mathematische Modell wird hierbei ontologisiert, also wie etwas Seiendes behandelt. Dabei ist immer noch ungeklärt, inwiefern mathematische Formeln tatsächlich eine Entsprechung in der Wirklichkeit haben beziehungsweise ob es in der Wirklichkeit auch etwas gibt, das prinzipiell nicht mathematisch erfasst werden kann. Etwas, von dem wir annehmen können, dass es sich der Mathematisierung entzieht, ist zum Beispiel das Leben selbst.
Und dies berührt eine weitere äußerst folgenreiche Prämisse des naturwissenschaftlichen Denkens. Dieses Weltbild geht nämlich von einem Atomismus der Wirklichkeit aus. Die Lehre vom Atom als kleinster Einheit der Wirklichkeit geht auf den griechischen Philosophen Epikur zurück. Bereits bei Epikur stand „das Individuum im Zentrum der Ethik und das Atom im Zentrum der Naturphilosophie“. (11) Die Lehre vom kleinsten Teilchen wurde in dieser Parallelität – einmal als Naturphilosophie und einmal als politische Philosophie – in der Frühen Neuzeit wieder aufgegriffen und hat vor allem die angelsächsische Welt beeinflusst.
Dort hat sie zweierlei bewirkt. Zum einen hat sie zur Entstehung politischer Theorien beigetragen, die die Gesellschaft ebenfalls auf ihre kleinste Einheit – nämlich das Individuum – zurückführten, was bewirkte, dass die Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft nur noch im Kontext liberaler Vertragstheorie gedacht werden konnte. Und zum anderen hat sie die Hegemonie des naturwissenschaftlichen Denkens über die Geisteswissenschaften mit begünstigt, insofern sich vor dem Hintergrund einer Übertragung des Atomismus auf Gesellschaftszusammenhänge kollektive Prozesse wie zum Beispiel die Kulturentwicklung nur noch schwer benannt, geschweige denn, gedeutet werden konnten.
Alternativen zum Atomismus mit anderen Anknüpfungen an die antike Überlieferung und der Fähigkeit Kulturzusammenhänge besser zu verstehen und zu beschreiben haben sich in der deutschen Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts ausgebildet (12), waren im 19. und frühen 20. Jahrhundert auch sehr einflussreich, konnten sich aber angesichts der geopolitischen und historisch stark veränderten Lage nach dem Zweiten Weltkrieg und während des beginnenden Kalten Krieges nicht mehr durchsetzen.
Dem Atomismus zufolge bestehen alle Gegenstände aus Atomen, die wiederum als tote und unbelebte Materie angesehen werden. Das Leben wird von den Naturwissenschaften als etwas Sekundäres betrachtet, nämlich als etwas, das erst entsteht, wenn Atome sich zu Molekülen, schließlich zu Aminosäuren und anschließend zu komplexeren Zellen und Organismen verbunden haben. Indem aber bereits die Basis der Wirklichkeit, nämlich die Atome, als etwas Totes angesehen wird, erscheint auch das Lebendige als ein lediglich “Quasilebendiges”. Sein “Lebendigsein” verdankt sich höchstens der zunehmenden Komplexität, ist aber ansonsten vom Toten abgeleitet. Die tote Materie wird als das Primärphänomen angesehen, dem das Leben lediglich als Sekundärphänomen folgt.
Den Naturwissenschaften liegt sozusagen die unausgesprochene These zugrunde, dass das Lebendige nur deshalb als lebendig erscheint, weil es aufgrund seiner Kompliziertheit noch nicht gänzlich verstanden werden kann. Sobald Wissenschaft aber in der Lage wäre, diese Komplexität des Lebendigen vollständig zu verstehen, würde sich auch das Lebendige als eigentlich Totes zu erkennen geben.
Bereits René Descartes hatte vor diesem Hintergrund angenommen, dass Tiere nur komplexe Automaten seien. Dass er diesen Verdacht auch auf den menschlichen Körper ausdehnte, geht aus seiner aus Angst vor der Inquisition unveröffentlichten Schrift Traité de l’homme hervor, die nach seinem Tode unter dem Titel De homine erschien. Den Status der menschlichen Seele grenzte er von dieser mechanistischen Sichtweise allerdings scharf ab und sprach ihr eine eigene Existenzform zu, die res cogitans im Gegensatz zur res extensa. Doch die moderne Naturwissenschaft ist Descartes Lehre von den zwei Reichen nicht gefolgt und hat stattdessen seine mechanistische Sicht auf den bloßen Organismus universalisiert.
Angesichts dessen ist es nicht überraschend, dass die Naturwissenschaften insgesamt Totes sehr gut erklären können, wohingegen sie bis heute Schwierigkeiten haben, das Lebendige als solches zu verstehen. Nirgendwo wird dieses Defizit naturwissenschaftlichen Denkens so deutlich wie bei den Versuchen insbesondere der Medizin und Physik, das menschliche Bewusstsein zu erklären. Weil sich dem herrschenden Paradigma zufolge das Lebendige aus etwas Totem, nämlich aus Atomen, zusammensetzt, muss nach dem naturwissenschaftlichen Weltbild auch das Bewusstsein das Ergebnis des Zusammenspiels toter Materie sein.
Das führt eben zu einer Haltung, die man heute bei vielen Neurowissenschaftlern beobachten kann, dass sie nämlich tendenziell das Bewusstsein leugnen und dieses lediglich für einen Film in unserem Gehirn definieren, der wiederum durch biochemische Reaktionen erzeugt wird. Dieser ‚Bewusstseinsfilm‘ habe zwar für den einzelnen Menschen eine subjektive Realität, sei aber eigentlich eine biochemisch bedingte Illusion, die notwendig für höhere Verstandesfunktionen sei und der somit ein evolutionärer Sinn im Naturprozess zukomme. Die Naturwissenschaften sehen das Bewusstsein somit lediglich als ein Sekundärphänomen an, das auf ein Primärphänomen, nämlich biochemische Reaktionen im Gehirn, zurückgeführt werden könne. Das Bewusstsein wird nicht als eigenständige Realität angesehen, sondern als ein von der toten Materie abgeleitetes Phänomen eingestuft.
Dass die Naturwissenschaften das Bewusstsein nicht als eigenständige Größe anerkennen können, sondern der toten Materie unterordnen, hat seine tiefere Ursache darin, dass sie prinzipiell von einem monistischen Universum ausgehen. Doch der Kosmos kann nur dann monistisch aufgebaut sein, wenn der Gegensatz zwischen Innen- und Außenwelt aufhört zu existieren. Dies erfordert jedoch, dass entweder die Außen- der Innenwelt oder aber die Innen- der Außenwelt untergeordnet werden muss. Da die Naturwissenschaft an die Empirie gebunden ist, ist für sie nur ein monistischer Kosmos denkbar, in welchem die Innenwelt als Unterfunktion der Außenwelt angesehen wird. Dies bedingt, dass auch das menschliche Bewusstsein in irgendeiner Art und Weise auf einen Bestandteil der Außenwelt zurückgeführt werden muss.
Die heute allgemein angenommene Gleichsetzung von Bewusstsein und Gehirnaktivitäten ermöglicht diese Unterordnung der Innenwelt unter die gegenständliche Welt. Zwar ist es bislang kaum möglich, die Komplexität seelischer Vorgänge durch die Beobachtung von Gehirnaktivitäten zu erklären. Die bisher entdeckten Zusammenhänge sind hauptsächlich funktionaler Natur und können nur in äußerst bescheidenem Maße geistig-seelische Vorgänge auf Gehirnaktivitäten zurückführen. Auch existieren einige geistige Phänomene, die einer direkten Gleichsetzung von Gehirn- und Bewusstseinsaktivität zu widersprechen scheinen (Nahtoderfahrungen, plötzliche Bewusstseinsklarheit in Todesnähe bei Menschen mit schwer geschädigten Gehirnen (13) etc.). Dennoch ist für das allgemeine Bewusstsein durch die üblicherweise zugrunde gelegte Gleichstellung von Gehirn und Bewusstsein die monistische Struktur der Realität erst einmal sichergestellt worden.
Die Rückführung des Bewusstseins auf Vorgänge in der Außenwelt hat jedoch dramatische Konsequenzen für die Rolle, welche die Subjektivität selbst im Erkenntnisprozess einnehmen darf. Traditionell wurde Erkenntnis immer in eine Beziehung zum Erkennenden gesetzt. Erkenntnis wurde deshalb immer mit einer speziellen Befähigung des Erkennenden in Verbindung gebracht. Dieser war zur Ein-Sicht im besonderen Maße fähig, weil sie von der Innenwelt des Erkennenden abhängig war.
Die naturwissenschaftliche Methode beschreitet den exakt gegenteiligen Weg, insofern sie die Subjektivität des Forschers sogar als Hindernis der Erkenntnis betrachtet und nach Möglichkeiten sucht, diese auszuschalten. Sie entwickelt das Ideal, der Forscher könne wie ein Messinstrument neutral und in gewisser Weise unbeteiligt an den Gegenstand herantreten, um ihn möglichst so zu erkennen, wie er tatsächlich sei, nämlich als ein rein äußeres Phänomen, welches von keinen Regungen der menschlichen Innenwelt gestört oder getrübt werde. An Stelle der einstigen Subjektivität tritt somit eine innerlich unbeteiligte sachliche Verfahrensweise, die die Phänomene lediglich registriert. Der weiße Kittel des im Labor tätigen Naturwissenschaftlers bringt die Ausklammerung der menschlichen Subjektivität symbolisch zum Ausdruck.
Das Problem hierbei besteht allerdings darin, dass die Ausklammerung der Subjektivität nicht wirklich gelingt und diese sich immer wieder in Gestalt von Ideologien, Tabus und Rationalisierungen in die verschiedenen Bereiche und Stadien des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses einschleicht. Und selbst dort, wo sie tatsächlich zu gelingen scheint, muss ein sehr hoher Preis für die Ausklammerung der Subjektivität gezahlt werden. Um zumindest den Anschein subjektfreier Einsicht zu erreichen, sieht sich nämlich eine solche Wissenschaft beständig dazu gezwungen, das primäre Wissen, welches Menschen in ihrer Innenwelt von sich selbst haben, zu bestreiten.
Die Naturwissenschaft kann nicht auf dem primären Wissen, das jeder Mensch von sich selbst hat, aufbauen, kann auch nicht mit diesem harmonieren oder produktiv zusammenwirken, sondern muss das Telos ihres eigenen Erkenntnisprozesses tendenziell gegen dieses primäre Selbstwissen des menschlichen Bewusstseins richten, seine Gültigkeit bestreiten, seine Existenz in Zweifel ziehen. (14) Denn nur auf diese Weise kann sie sich selbst den Anschein einer von Subjektivität freien Einsicht geben.
Ein primäres Wissen, das jeder Mensch von sich selbst hat, ist zum Beispiel das Wissen um sein eigenes Bewusstsein. Jeder Mensch weiß, dass er Bewusstsein hat. Er weiß zudem, dass dieses Bewusstsein eine Art Innenraum darstellt, welcher der Außenwelt gegenübersteht. Doch dieses primäre Wissen muss vom naturwissenschaftlichen Weltbild geleugnet werden, weil es in einem monistischen Universum keine Innenwelt im Sinne eines Primärphänomens geben darf.
Diese Leugnung der Innenwelt und ihre Rückführung auf die Außenwelt hat wiederum dramatische Konsequenzen für unser Freiheitsbewusstsein. Das Freiheitsbewusstsein ist ebenfalls ein primäres Wissen, das ebenso den monistischen Kosmos der Naturwissenschaften gefährdet und deshalb von den Naturwissenschaften prinzipiell – also bereits vor aller wissenschaftlichen Forschung und vor jedem Experiment – zurückgewiesen werden muss.
Weil die Naturwissenschaften sehr erfolgreich innerhalb der Außenwelt und der unbelebten Materie Kausalzusammenhänge aufzudecken vermögen, bietet sich für sie hier ein scheinbar gangbarer Ausweg aus dem Dilemma an, mit dem sie konfrontiert sind. Diese Lösung besteht darin, dass die Erfahrung existierender Kausalzusammenhänge einfach universalisiert und auf die gesamte Wirklichkeit übertragen wird. Man stellt die Hypothese auf, dass die gesamte Außenwelt letztlich einen Zusammenhang von Grund und Folge darstelle. Während dieser Kausalzusammenhang in einem einzelnen untersuchten Phänomen in einigen Fällen noch erkennbar und somit endlich ist, stellt er sich, sobald er der Welt als Ganzes zugrunde gelegt wird, jedoch als unendlicher Zusammenhang von Grund und Folge dar, der nur angenommen aber nicht bewiesen werden kann.
In einer solchen unendlichen Abfolge von Ursache und Wirkung kann es aber im Grunde genommen kein Leben im eigentlichen Sinne geben und erst recht kein Bewusstsein. Denn wenn die Abfolge von Ursache und Wirkung unendlich ist und prinzipiell alles mit einschließt – die gesamte Außenwelt wie auch die auf die Außenwelt zurückgeführte Innenwelt – so schließt sie eben auch das Leben mit ein, mit all seinen Regungen und Äußerungen inklusive des Bewusstseins. Jede Bewegung eines Lebewesens und auch jeder Gedanke und jede Entscheidung eines menschlichen Bewusstseins wären dann ebenfalls einbegriffen in die unendliche Abfolge von Grund und Folge und als solche bereits festgelegt, bevor sie überhaupt geschähen. Bewusstsein, Freiheit sowie ein Wissen um die Freiheit des Bewusstseins könnten in einer solchen Welt bestenfalls als Illusion existieren, nicht aber als Element der Wirklichkeit.
Gibt es Bewusstsein als eine eigenständige Größe, ein mit Freiheit begabtes Bewusstsein, das von sich selbst weiß, sich infolgedessen auf sich selbst bezieht und in seiner Freiheitsmöglichkeit selbst bejaht und ergreift, so wird dieses Bewusstsein mit jeder freien Handlung die Außenwelt und ihre unendliche Kausalkette durchstoßen und unterbrechen. Aber das glauben die Naturwissenschaften in der Regel nicht. Stattdessen gehen sie davon aus, dass auch die Innenwelt des menschlichen Bewusstseins letztlich der Außenwelt zugerechnet werden kann und sich somit auch das Bewusstsein in die als unendlich angenommene Kausalkette der Natur einfügt.
Da die Naturwissenschaften die Existenz einer unendlichen Kausalkette letztlich nicht beweisen können, ist diese Annahme letztendlich metaphysischer Natur. (15) Der Unterschied zur philosophischen Metaphysik besteht allerdings darin, dass die Naturwissenschaft in der Regel kein Bewusstsein davon hat, dass sie selbst auf metaphysischen Grundannahmen beruht. Die Naturwissenschaft reduziert den Menschen somit kraft der ihr inhärenten und unbewussten Metaphysik auf sein Außen. Indem sie sogar die Innenwelterfahrung des Menschen der Außenwelt zurechnet und ihr unterordnet, sieht sie diese letztlich auch nur als einen Bestandteil der unendlichen Kausalkette der Natur an, was einer erheblichen Entwertung menschlicher Erfahrung gleichkommt.
Zu dieser negativen Haltung, die die Naturwissenschaften gegenüber der Selbsterfahrung des Menschen einnehmen, die ihm als Träger von Bewusstsein nun einmal zukommt, gehört auch die Leugnung der Gottesfrage. Die Naturwissenschaften waren nicht von Anfang an atheistisch orientiert. Berühmte Wissenschaftler wie Nikolaus Kopernikus und Isaac Newton bekannten sich zu ihrem Glauben an Gott. Kopernikus glaubte durch seine heliozentrische Kosmologie die Harmonie von Gottes Schöpfung aufzeigen zu können, während Newton in seiner Theorie sogar Raum für göttliches Eingreifen ließ. Doch in dem Maße, in dem die Naturwissenschaften die Welt als eine monistische Ordnung interpretierten, in dem Maße mussten sowohl die Bewusstseinserfahrung, die Freiheitserfahrung als auch die Relevanz der Gottesfrage bestritten werden.
Hinzu kam, dass insbesondere während der Aufklärung des 18. Jahrhunderts viele Wissenschaftler die geistige Macht der Kirche herausgefordert hatten und fortan mit ihr konkurrierten, was dazu beigetragen hat, dass sich die Naturwissenschaften auf eine atheistische Position festgelegt haben. Nimmt man den Objektivitätsanspruch der Wissenschaften ernst, so könnten sie eigentlich kaum etwas gegen eine agnostische Position einwenden. Der Agnostizismus, der die Frage nach der Existenz Gottes offen – also unbeantwortet – lässt, sollte eigentlich mit der naturwissenschaftlichen Methodik vereinbar sein. Doch tatsächlich ist dies nicht der Fall. Die heutigen Naturwissenschaften können nicht einmal die agnostische Position anerkennen und haben sich auf die atheistische Position festgelegt, ungeachtet der Tatsache, dass die Nichtexistenz Gottes genauso wenig belegbar ist wie seine Existenz. In der naturwissenschaftlichen Forschung kann Gott nicht einmal als unbewiesene Möglichkeit vorkommen. Bereits die Erwähnung der Gottesfrage kann heute an wissenschaftlichen Institutionen leicht dazu führen, dass die wissenschaftliche Eignung des so Sprechenden in Frage gestellt wird.
An dieser materialistischen und monistischen Ausrichtung der Naturwissenschaften haben auch wichtige physikalische Entdeckungen des 20. Jahrhunderts nicht wirklich etwas geändert. Die Relativitätstheorie ist im Grunde genommen mit dem Bild eines determinierten, toten und bewusstseinslosen Kosmos recht gut vereinbar. Die Quantenmechanik scheint einigen der hier aufgezählten Grundannahmen naturwissenschaftlichen Denkens zu widersprechen. Während die herkömmliche Naturwissenschaft prinzipiell glaubt, jedem Geschehnis einen festen Wert zuordnen zu können, sofern nur die Messinstrumente fein genug eingestellt sind, geht die Quantenmechanik davon aus, dass sich im Bereich der Atome prinzipiell nur noch Wahrscheinlichkeiten statt feste Zahlen messen lassen. Damit wird die naturwissenschaftliche Annahme einer die gesamte Welt umfassenden Kausalkette in Frage gestellt. Die Quantenmechanik erkennt zudem an, dass der Vorgang des Beobachtens selbst bereits einen Effekt auf das beobachtete Objekt ausüben kann und bestreitet somit die Möglichkeit einer subjektfreien Erkenntnis.
Dennoch hat die Quantenmechanik trotz vieler technischer Anwendungen keinen wirklichen Einfluss auf unser kollektives Weltbild gehabt. Kaum ein Naturwissenschaftler hat seine Skepsis gegenüber der Existenz einer Seele revidiert, nur weil die Unschärferelation existiert. Dies könnte auch daran liegen, dass die auf Mathematik beruhende Quantenmechanik hinsichtlich ihrer Abstraktheit die herkömmliche Naturwissenschaft sogar noch übertrifft und schon allein deshalb kaum eine Alternative darstellt. Hinzu kommt noch, dass die Quantenmechanik nur im Bereich der kleinsten Teilchen gültig ist. Um wirklich ein neues Weltbild stiften zu können, wäre es – wie der Philosoph Jochen Kirchhoff überzeugend dargelegt hat (16) – nötig, dass sich nachvollziehbare Verbindungen und Stufen zwischen den Vorgängen auf der Mikroebene und denen auf der Makroebene nachweisen lassen. Als ein rein mathematisches Modell von prinzipiell nicht beobachtbaren Vorgängen auf der atomaren Ebene ist die Quantenmechanik eine bloße Abstraktion, die aufgrund ihres geringen Realitätsbezugs keine wirkliche kulturelle Wirkung entfalten kann. Und so ist es nicht verwunderlich, dass auch die heutige Naturwissenschaft letztlich immer noch im wissenschaftlichen Weltbild des 19. Jahrhunderts verharrt und die Welt als ein gigantisches Ableitungssystem begreift, in dem alles auf etwas Vorheriges zurückgeführt werden könne.
Resümee
Die bisherigen Ausführungen zeigen deutlich, dass den Naturwissenschaften, trotz ihrer unterschiedlichen Forschungsfelder, ein einheitliches und spezifisches Weltbild zugrunde liegt. Darin unterscheidet sich die Naturwissenschaft im Singular nicht grundsätzlich von anderen geistigen Systemen, seien dies Religionen oder Philosophien. Dies ist nur deshalb überraschend, weil die Wissenschaften in der Vergangenheit viele metaphysische Grundannahmen der Religion und Philosophie entzaubert haben.
Tatsächlich begannen die Wissenschaften als vorurteilsfreier Denkprozess, der religiöse Dogmen hinterfragte. Doch je mehr die Naturwissenschaften sich darauf festlegten, die Welt als ein prinzipiell totes, determiniertes, subjektloses, unfreies und bewusstseinsloses Ableitungssystem zu begreifen, desto mehr begannen sie selbst eine neue Metaphysik hervorzubringen, welche im Zuge der Industrialisierung schließlich eine dogmatische Form annahm.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern dieses Freiheitsdementi der Naturwissenschaften heute auch die Gesamttendenz des technischen Fortschritts mit beeinflusst. Können wir von dem Weltbild, welches den Naturwissenschaften zugrunde liegt, Rückschlüsse auf die Richtung und Entwicklungslogik des technischen Fortschritts selbst ziehen? Existiert ein Zusammenhang zwischen den Grundannahmen des naturwissenschaftlichen Weltbildes und der in unserer Gegenwart sich vollziehenden technischen Herausbildung eines modernen Überwachungsstaates (17), der bestrebt ist alle gesellschaftlichen Handlungen zu erfassen und in Zahlen zu übersetzen?
Könnte eine Naturwissenschaft, die die Freiheit des Menschen prinzipiell leugnet, am Ende mit Notwendigkeit eine Technologie der unfreien Welt hervorbringen? Oder anders gefragt: Könnte es auf Basis einer veränderten Naturwissenschaft auch einen anderen technischen Fortschritt geben als jenen, welchen wir kennen? Wäre ein technischer Fortschritt möglich, welcher der Würde des Menschen entspräche und auf die Abschaffung der Privatsphäre und die statistische Eroberung der menschlichen Innenwelt verzichten könnte? Um diese Frage zu beantworten ist es wichtig, das naturwissenschaftliche Weltbild in seinem Verhältnis zu den Religionen genauer zu betrachten. Darum wird es im zweiten Teil dieser Analyse gehen.
Über den Autor: Hauke Ritz promovierte im Fach Philosophie und publiziert insbesondere zu Themen der Geopolitik und Ideengeschichte. Sein Buch “Der Kampf um die Deutung der Neuzeit” erschien 2015 in zweiter Auflage. Der vorliegende Essay geht auf einen Vortrag zurück, welchen der Autor am 11. November 2019 auf der Konferenz „Technologieentwicklung, Kapitalismus und die Gesellschaft – Progress oder Dehumanisierung?” der Rosa Luxemburg Stiftung in Moskau gehalten hat. Teil 2 erscheint demnächst.
Anmerkungen:
(1) Im Folgenden wird der Terminus Naturwissenschaft je nach Kontext sowohl im Plural als auch im Singular verwendet werden. Weil die verschiedenen Naturwissenschaften durch gemeinsame epistemologische Grundannahmen miteinander verbunden sind, kann der Begriff auch im Singular verwendet werden.
(2) Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Tübingen 1905
(3) Vgl.: Hauke Ritz, Der Kampf um die Deutung der Neuzeit, Paderborn 2015
(4) Die Vorstellung, dass Datenschutzrichtlinien einzelner Nationalstaaten oder auch der EU unter den heutigen Bedingungen diese Entwicklung eindämmen könnten, ist naiv. Die Auslandsspionage von Geheimdiensten geschieht nahezu im rechtsfreien Raum. Zudem können rechtliche Barrieren, mit denen sich die Dienste im Inland konfrontiert sehen, leicht durch die internationale Zusammenarbeit einzelner Gemeindienste umgangen werden.
(5) Jacob Taubes, Ästhetisierung der Wahrheit im Posthistoire, in: Streitbare Philosophie, Margherita von Brentano zum 65. Geburtstag, hg. v. Gabriele Althaus, u. Irmingard Staeuble, Berlin 1988, S. 50
(6) Ueli Niederer, Galileo Galilei und die Entwicklung der Physik, in: Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich (1982) 127/3: S. 205-229
(7) René Descartes, Abhandlung über die Methode richtig zu denken und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen. Übersetzt von Julius Heinrich von Kirchmann, Berlin 2016 S. 13
(8) Nelson Goodman, Sprache der Kunst – Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a. M. 1997
(9) Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen – Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt a. M. 1991
(10) René Descartes, Abhandlung über die Methode richtig zu denken und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen. Übersetzt von Julius Heinrich von Kirchmann, Berlin 2016 S. 13
(11) Edelbert Richter, Deutsche Vernunft Angelsächsischer Verstand – Intime Beziehungen zwischen Geistes- und Politikgeschichte, Berlin 2015, S. 43
(12) Ebenda, S. 37 f.
(13) The Epoch Times, Do Alzheimer’s, Dementia Prove the Soul Doesn’t Exist?; Tara MacIsaac, 2. September, 2014
(14) Dass es sich beispielsweise bei der Krise der Kunst tatsächlich um eine Krise der Subjektivität handelt, welche sich heutzutage in immer geringerem Maße auf ihr primäres Wissen von sich selbst zu beziehen vermag, ist von dem Philosophen Dieter Henrich eingehend analysiert worden. Vgl.: Dieter Henrich, Versuch über Kunst und Leben, Subjektivität – Weltverstehen – Kunst, München 2001
(15) Brigitte Falkenburg, Ist die Natur kausal geschlossen?; in: Mythos Determinismus – Wieviel erklärt uns die Hirnforschung? Berlin, Heidelberg 2012, S. 45 ff.
(16) Jochen Kirchhoff, Räume, Dimensionen, Weltmodelle – Impulse für eine andere Naturwissenschaft, Klein Jasedow 2007
(17) Vgl.: Edward Snowden, Permanent Record – Meine Geschichte, Frankfurt a. M. 2019
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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung.
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Dieser Beitrag erschien zuerst am 06.07.2020 im Magazin Multipolar.
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Bildquelle: Andrey Armyagov / shutterstock
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