Von Dirk Pohlmann.
Die Katerstimmung wird in Großbritannien länger anhalten als der Rausch des Ausstiegs, so viel ist schon mal klar. Das gilt für England, vor allem aber für Schottland und Nordirland, deren Hangover sich nach diesem Abstimmungsergebnis zu einem Realitätsschock auswachsen wird. Sie werden feststellen, dass ihnen die EU näher ist als England. Die Beziehung zwischen Schotten und Briten war schon immer ähnlich wurmstichig wie die Beziehung zwischen Großbritannien und der EU.
Als ein Freund von mir eine Schottin heiratete, wurde er als ungeliebter Deutscher von der Familie der Ehefrau mit „At least not an Englishman“ begrüßt.
Nach dem Brexit werden weitere Sezessionen kommen, denn Schottland und Nordirland werden sich gründlich überlegen, ob sie die Leinen zur MS Titanic nicht doch besser kappen sollten.
David Cameron wird also mit einem dreifachen Trennungs-Desaster in die britischen Geschichtsbücher eingehen.
Auch wenn die Folgen des Brexit buchhalterisch betrachtet ein Tiefschlag sind, vor allem für England selbst – so sind sie doch eine nötige Klärung.
Die unabgestimmten Führungspositionen, die sich Deutschland unter Angela Merkel in Europa angemaßt hat, in Sachen Griechenland, beim Flüchtlingsproblem, beim Brexit, werden jetzt zu ihrem Unheil werden. Ihre Position ist genauso schwach wie Camerons Position. Deutschland kann so nicht weitermachen. Und es kann auf der europäischen Bühne nicht mit dieser Kanzlerin weitermachen. So heftig die Analyse auch klingt, so wenig man sie in ARD und ZDF hören wird – sie ist doch nicht übertreiben, meine ich. Deutsche Arroganz ist nicht der Kitt, der Europa zusammenhält.
Die Briten werfen Deutschen gerne Arroganz vor, sowie eine angstvolle Unfähigkeit zur Veränderung. An dem Vorurteil ist in beiden Fällen etwas dran, aber leider setzt die Sherlock Holmes erprobte Analysefähigkeit der Engländer beim Blick in den Spiegel komplett aus.
In der Brexit-Kampagne hat England sein hässliches Gesicht gezeigt und diese Fratze wird es jetzt für einige Jahre herumtragen. Nationalismus, Rassismus und die Sehnsucht nach dem verlorenen Imperium zusammengerührt ergeben keinen leckeren Cocktail. Das gilt zwar für Insulaner wie die Festlandsbewohner, egal wo sich dieser Schimmelpilz ausbreitet. Aber die Engländer haben sich gerne in dem Glauben gesuhlt, dass Fremdenhass ein genetischer Fehler der Teutonen sei, während sich das wahre Gesicht Großbritanniens im kosmopolitischen London manifestiert habe. Not really.
Zivilisation ist eine konstante Kraftanstrengung, deren Nutzen immens ist. Kein vernünftiger Deutscher wird das angesichts unserer Geschichte abstreiten. Aber eine Kraftanstrengung ist es auch für die Briten. Auch sie sind nur Menschen. Der Lack der Zivilisation ist brüchig. Wie auf einem Schiff muss ständig nachgestrichen werden, damit der Rost nicht überhandnimmt. Auch in England.
Der Brexit ist auch die Quittung für 4,5 Jahrzehnte Dauer-Gemecker der Konservativen gegen die EU. Sie haben die EU-Mitgliedschaft stets als Giftbecher dargestellt, der den Briten von heimtückischen Funktionären überreicht worden sei. Cameron und Co. sollten sich also jetzt nicht wundern, dass ihre Bevölkerung diesen Mist nach jahrzehntelanger Propagandaberieselung auch glaubt, obwohl er nun den wirtschaftlichen Interessen der britischen Industriellen und Finanzkapitalisten extrem abträglich ist.
Damit sind wir gleichzeitig bei einer britischen Stärke angelangt, die es neben einem der wichtigsten Beiträge der Briten zu Europa, ihrem Monty Python Humor, zu feiern gilt: dem „Reality Check“.
Also, Reality Check für die EU. Sie ist nun wirklich keine gute Partie. Die EU ist bestenfalls eine Vernunftehe, in der die Partner ununterbrochen von besseren Zeiten träumen. Wie Deutschland Griechenland in der Krise behandelt hat, entspricht den Zuständen einer dysfunktionalen Beziehung. Die EU ist ein hässlicher, übergriffiger Bräutigam.
Die EU ist keine Idee, sie besitzt keine selbsttätig wirkende Anziehungskraft. Ihre Vorteile müssen langwierig erklärt werden, ihre überdeutlichen Fehler wegrationalisiert. Nur Streber und Karrieristen singen das Loblied der EU. Man assoziiert mit ihr kein genussvolles „Vive la différence”, keine friedensnobelpreisselige Gartenparty der ehemaligen “Erbfeinde”, nebst Bordeuxwein, Rohmilchkäse und Salami, sondern: Bürokratie, Nepotismus und Herrschaftsanspruch.
Der Brexit ist also auch ein Weckruf für uns. Die EU ist nicht cool. Sie ist kein Zukunftsmodell, keine Idee, die unbestreitbar Zukunft hat. Sie muss es aber werden. Wir brauchen sie angesichts der geopolitischen Wahnsinnspläne der USA dringender denn je.
Das Projekt Europa muss neu aufgestellt werden. Zukunftsfähig, mit neuen Ideen, jenseits der EU-Bürokratie. Als Projekt einer gemeinsamen Ordnung, die gesellschaftspolitisch experimentiert, aber eine feste Verankerung als Friedensmacht hat, die aus der Kriegserfahrung Europas gelernt hat, die für eine gemeinsame Sicherheitspolitik eintritt, die gute Nachbarschaft mit Russland und China auf dem eurasischen Kontinent anstrebt, den kriegslüsternen USA nicht mehr zur Verfügung steht. Raus aus der NATO. Grundeinkommen in Portugal, direkte Demokratie in Deutschland, dänische Arbeitslosigkeitsbekämpfung, norwegische Gefängnisse – mal sehen, was am besten funktioniert!
Warum ist es eigentlich unmöglich, dass verschiedene Gesellschaftsmodelle parallel existieren, um zu erkunden, was man wie verbessern kann? Wenn Griechenland aus der Krise zu einer anarchosyndikalististischen Zone würde – ich wüsste, wohin ich auswandere – als EU-Bürger!
Das sind weitreichende Vorstellungen, sicher. Schwer vorstellbar. Genauso schwer vorstellbar wie der Brexit.
Aber die Krise ist auch ein Alarmsignal. Wir sollten uns endlich gemeinsam fragen, wie die Gesellschaft aussieht, in der wir leben wollen, statt uns ständig an “alternativlose” Zustände anzupassen, die dann beim ersten Herbststurm weggeweht werden.
Niemand muss meinen Vorstellungen folgen, aber wir sollten auf jeden Fall gemeinsam diskutieren. Das geschieht nicht, unsere öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, zu deren Auftrag es gehört, sind unwillig und unfähig dazu. “Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.” soll Helmut Schmidt gesagt haben.
Das ist der dümmste und verheerendste Satz, den der Pragmatiker je von sich gegeben hat. Visionen sind das, was wir angesichts von Kriegen, Kriegsgefahr und Kriegsvorbereitungen, Klimawandel, Globalisierung und Massenflucht dringend brauchen. “In der allergrößten Not bringt der Mittelweg den Tod.” Wir müssen richtig reagieren und handeln und dazu müssen wir uns darüber einigen, wo die Reise hingehen soll. Sie könnte, gerade in Europa, in verschiedenen Regionen in verschiedene Richtungen gehen.
Sicher ist: wenn es keine Veränderungen in der EU gibt, können wir uns die Realität noch eine Weile schönreden, so weitermachen wie bisher und uns beim langsamen Walzer gegenseitig versichern: “Keine Panik, der Brexit war nur eine Kollision mit einem Eisberg. Aber unser Schiff ist unsinkbar!”
Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung.
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