Von Susan Bonath.
Umverteilung nach oben geht weiter: Deutsche Mittelschicht schrumpft so stark wie in den USA.
»Die Einkommensmittelschichten schrumpfen in Deutschland genauso schnell wie in den USA.« Dies ist weder eine Horrormeldung der Linkspartei noch eine Warnung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Nein, ausgerechnet die neoliberale Ideenfabrik DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) konstatierte jetzt in einer Studie [1] das wenig Überraschende: Während die Einkommen einer kleinen Gruppe Reicher wachsen, rutscht ein immer größerer Teil der Mittelschicht ab.
In der DIW-Studie verglichen die Autoren des Papiers, Markus M. Grabka, Jan Goebel, Carsten Schröder und Jürgen Schupp vom DIW Berlin, sowohl die Höhe mittlerer Einkommen sowie deren Anteil am Gesamteinkommen in Deutschland und den USA. Danach sank der Anteil der Mittelschicht an der Gesamtbevölkerung seit 1991 in beiden Staaten um sechs Prozent.
Als Mittelschicht deklarieren die Forscher Bezieher von Erwerbseinkünften, die 67 bis 200 Prozent des mittleren Einkommens betrugen. Als letzteres ermittelten sie den Durchschnittswert aller Brutto-Haushaltseinkommen pro Jahr, inklusive Renten und Sozialleistungen. In Deutschland hätten danach alle Menschen im Jahr 2013 im Schnitt 29.500 Euro verdient. In den USA habe dieser Wert 2014 bei rund 74.000 US-Dollar (knapp 65.000 Euro) gelegen. Dieser hohe Wert sei den noch größeren Vermögen und Einkommen einiger Superreicher geschuldet.
Die Armutsschwelle wird hingegen in den USA niedriger beziffert als in der BRD. 2013 galt dort als arm, wer als Alleinstehender mit weniger als 11.500 US-Dollar (gut 10.000 Euro) netto übers Jahr kommen musste. Davon sind derzeit knapp 50 Millionen US-Bürger betroffen, also 15,6 Prozent der gut 321 Millionen US-Bürger. In Deutschland lag der Prozentsatz derer, die unterhalb der Armutsschwelle lebten, im vergangenen Jahr laut Paritätischem Wohlfahrtsverband mit 15,4 Prozent fast genauso hoch. Hier gilt als arm, wer als Alleinstehender über weniger als 11.767 Euro jährlich (980 Euro monatlich) netto verfügt.
Dabei wird in beiden Ländern von Jahr zu Jahr mehr produziert. In Deutschland stieg das Bruttoinlandsprodukt von 1991 bis 2015 von 1,58 auf 3,03 Billionen Euro. Auf jeden der 81,6 Millionen in der BRD Lebenden – vom Säugling bis zum Rentner – kämen davon 37.100 Euro. Allerdings: Laut einer Untersuchung desselben Instituts (DIW) vom September 2015 verfügen die 40.000 reichsten Familien über etwa 17 Prozent des Gesamtvermögens. Das obere eine Prozent – 800.000 Menschen – besitzen 33 Prozent des Reichtums. Die ärmere Hälfte in Deutschland (über 40 Millionen) geht hingegen mit einem Anteil von gerade noch 2,5 Prozent fast leer aus.
In den USA kletterte das Bruttoinlandsprodukt zwischen 2006 und 2015 ebenfalls, und zwar von 14 auf 18 Billionen US-Dollar beziehungsweise von 12,27 auf 15,78 Billionen Euro. Demnach kommt auf jeden US-Bürger ein erwirtschafteter Wert von 56.000 US-Dollar, umgerechnet etwa 49.100 Euro.
In der Bundesrepublik, so vermeldete das DIW, seien vor allem eingebürgerte Migranten aus der Mittel- in die Unterschicht gerutscht. Die Forscher resümierten, der »in den vergangenen Jahren zu beobachtende Beschäftigungsabbau« habe »nicht zu einer Stabilisierung der mittleren Einkommen beigetragen«. In den USA seien insbesondere Zuwanderer aus Lateinamerika abgestiegen, und dies durchschnittlich zum Teil viel drastischer als in Deutschland. »Weiße US-Bürger schafften hingegen überdurchschnittlich oft den Sprung in die Gruppe hoher Einkommen«, so die Studienautoren.
Damit sank in beiden Ländern auch der Anteil der mittleren Einkünfte am Gesamteinkommen. In den USA lag dieser laut DIW im Jahr 1980 bei 60 Prozent, 1990 bei 54 Prozent und schließlich 2014 bei nur noch 43 Prozent. In Deutschland schrumpfte der Lohnanteil der Mittelschicht demnach von 67 Prozent im Jahr 1991 um ebenfalls über zehn Prozent.
Die Vermögenden steckten sich hingegen jährlich immer mehr ein, in den USA zuletzt 49 Prozent. In Deutschland kassierten die Reichen 2013 demnach etwa 33 Prozent aller Einkommen, 1991 waren es noch 23 Prozent. In beiden Ländern, so die Forscher, seien vor allem 30- bis 44jährige aus der mittleren Einkommensklasse herausgefallen. In der BRD habe die Mittelschicht seit 1983 um 15 Prozent abgenommen. »Auffällig ist, dass der Bevölkerungsanteil der jungen Erwachsenen zwischen 18 und 29 Jahren in den unteren Einkommensschichten zunahm.«
Die Umverteilung von unten nach oben beschränkt sich allerdings nicht nur auf die beiden Exportnationen USA und Deutschland. Sie ist so global, wie der Turbokapitalismus. Laut Statistik lag das weltweite Bruttoinlandsprodukt 2015 bei 74,5 Billionen US-Dollar, umgerechnet rund 65,34 Billionen Euro. Danach käme auf jeden der ungefähr 7,4 Milliarden Erdenbewohner ein erwirtschafteter Wert – also alle verfügbaren Produkte und Dienstleistungen – von 10.100 US-Dollar (8.860 Euro) pro Jahr. Im Jahr 2005 lag das globale BIP noch bei gut 47 Billionen US-Dollar (41,2 Billionen Euro). Damals leben zirka 6,5 Milliarden Menschen auf der Erde, auf jeden von ihnen wären bei gleicher Verteilung 7.200 US-Dollar beziehungsweise gut 6.300 Euro entfallen.
Dennoch: Laut der UN-Organisation »World Food Programme« leiden noch immer 800 Millionen Menschen unter akutem Hunger. Jährlich sterben etwa 3,1 Millionen Kinder unter fünf Jahren an Unterernährung. Die Organisation geht davon aus, dass weltweit jedes vierte Kind chronisch mangelernährt ist.
Andersherum besitzen laut einer Oxfam-Studie die 62 reichsten Menschen so viel wie die ärmere Hälfte der gesamten Weltbevölkerung (KenFM berichtete). Das reichste eine Prozent, also 70 Millionen Menschen, verfüge über mehr Reichtum als die restlichen 99 Prozent zusammen – laut Oxfam Tendenz steigend. Zudem hätten neun von zehn Großkonzernen Niederlassungen in einer Steueroase, heißt es weiter. Das koste alleine die afrikanischen Staaten jährlich 14 Milliarden Dollar. Mit diesem Geld, so Oxfam, »ließe sich in Afrika flächendeckend die Gesundheitsversorgung für Mütter und Kinder sicherstellen.«
Kommentar
Bonzen enteignen!
Um zu merken, dass die Mittelschicht in Deutschland schrumpft, braucht es keine gutbezahlten Ökonomie-»Experten«. Wer ab und an in Großstädten an Bahnhöfen, Parks und unter Brücken entlang spaziert und die wachsende Zahl an Bettlern und Obdachlosen nicht registriert, kann nur blind oder ignorant sein.
Letzteres scheint bei der politischen Klasse der Fall zu sein. Und die «Superkoalition« aus CDU, CSU und SPD schraubt munter weiter an der Umverteilungsspirale: Hartz IV wird verschärft, EU-Zuwanderern wird jeglicher Zugang zu Sozialleistungen gestrichen, anerkannte Flüchtlinge sollen zwangsintegriert und in Ein-Euro-Jobs versklavt werden, der Mindestlohn wird ein Minilohn bleiben, Schwangere sollen bald bis 22 Uhr und sonntags arbeiten »dürfen«, Behinderte sollen weiterhin für die ihnen zuerkannten notwendigen Hilfen zur Bewältigung des Alltags bis in die Nähe des Sozialhilfesatzes geschröpft werden, das Rentenniveau sinkt weiter bis auf 43 Prozent und die Reichen freuen sich weiterhin über niedrige Spitzensteuersätze.
Jedem, der noch mehr als drei Gehirnzellen hat, sollte klar sein, dass die Umverteilung indes nur gestoppt werden kann, wenn die Vermögenden zur Kasse gebeten werden. Natürlich geht das über hohe Erbschaftssteuern auf leistungslos weitergereichte milliardenschwer Besitztümer und Unternehmen. Dringend müssen die Abgaben auf Kapitalerträge heraufgesetzt und eine hohe Vermögenssteuer eingeführt werden.
Viele werden jetzt schreien: Das sei Enteignung. Aber ohne Enteignung wird es nicht gehen. Nebenbei: Vermögen gerecht zu verteilen, käme auch im Kapitalismus den Besitzenden zu Gute: Denn was haben die Konzernherren davon, wenn die Zahl der Armen wächst und immer weniger ihr Zeug überhaupt kaufen können? Genau, nichts. Und das erleben wir zurzeit: Der Kapitalismus krankt an einer permanenten Absatz- und damit Überproduktionskrise. Dies führt, das wissen wir aus der Geschichte, früher oder später zu großen Kriegen, in denen es um nichts anderes geht, als darum, neue Märkte und Ressourcen zu erobern. Und um weitere Gewinne durch Rüstungsexporte in alle Welt.
Das Problem ist aber noch ein anderes: Ein derzeit wieder in vielen Ländern zu beobachtender Drift nach rechts. Das heißt: Apologeten, die einfache Feindbilder liefern, haben leichtes Spiel bei vielen Wütenden. Was früher für den christlichen Abendländler »der Jude« war, sind heute Muslime, Araber oder Ausländer allgemein. Vergessen wird, dass die Christenheit in der Geschichte die grausamsten Verbrechen begangen hat, von brutalen, eigens angezettelten Glaubenskriegen bis hin zur Hexenverbrennung.
Böse könnte man attestieren: Die Unterschicht lässt sich mal wieder gegen die Unterunterschicht aufhetzen. Sie schreit mit im AfD-Chor nach mehr Polizei und mehr Militär und liegt einer Partei zu Füßen, die behauptet, eine »Alternative« zu sein, in Wahrheit aber die Erbschaftssteuer komplett abschaffen und die Vermögen der Superreichen nicht mal ein bisschen antasten will. Und bei Pegida und Co ereifert sich die von Abstiegsangst gebeutelte Mittelschicht über eine Kanzlerin, die so austauschbar ist, wie ein Paar Winterhandschuhe. Und dann sei noch die »Lügenpresse« schuld, die tatsächlich eben nur ein Produkt der fortgeschrittenen Kapitalakkumulation (die macht auch vor Verlagen nicht halt) ist.
So verständlich Wut und Angst sind, so richtig die Einschätzung ist, dass die Verteilungskämpfe am unteren Ende mit den Flüchtlingsströmen wachsen werden, so abstrus ist der Glaube daran, in einem globalen Markt könne durch Nationalismus und Abschottung irgendwas verbessert werden.
Letztendlich gibt es nur einen Weg: Die Bonzen gehören enteignet. Die Wertschöpfung darf nicht länger in den Händen von Privateignern bleiben. Das Produzierte muss, wie die Arbeit, gerecht verteilt werden. Ansonsten wird es kein Ende der Kriege geben. Ansonsten geht der Kampf um Besitz und Marktbeherrschung weiter. Und ein dritter Weltkrieg würde uns alle treffen, arm und reich gleichermaßen.
Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Artikels.
KenFM bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Meinungsartikel und Gastbeiträge müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
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