Wie können wir es nur aushalten ohne sie …?

Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.

Ich erinnere mich an einen Spaziergang mit der Earth First!-Aktivistin Judi Bari im sogenannten Redwood-Summer 1990. Damals hatte Pacific Lumber angefangen, die letzten Redwood-Bestände an der Pazifikküste oberhalb San Franciscos „abzuernten“. Der Widerstand unter Umweltschützern war gigantisch. Die Medien sprachen vom „Eco War“. Damals trieben die Umweltschützer riesige Nägel in die Stämme, an denen sich die Motorsägen die Zähne ausbeißen sollten. Mehrere Forstarbeiter wurden verletzt. Die Situation eskalierte, bis eine Earth First!-Sprecherin bei einem Bombenattentat fast ums Leben kam. Die Bombe wurde der Frau vermutlich vom FBI ins Auto gelegt.

In dieser aufgeheizten Stimmung schlenderte ich mit Judi die Dorfstraße von Alderpoint hinunter in ein lang gezogenes Tal, in dem hunderte bemooster, mannshoher Baumstümpfe in Reih und Glied standen, wie Grabmale auf einem Heldenfriedhof.

„All das hier war vor Jahren noch mit majestätischen Urwäldern bedeckt“,

hörte ich Judi sagen,

„bis zu zweitausend Jahre alte Redwood-Riesen ragten über hundert Meter hoch in den Himmel. Zwischen Platt Mountain auf der einen und Wool Mountain auf der anderen Seite lebten unzählige Vogelarten, Reptilien und Wildkatzen. In den Bächen tummelten sich Forellen und Lachse. Dort drüben rauschte ein Wasserfall in die Tiefe … “

Meine Begleiterin ging in die Hocke und ließ eine Handvoll staubiger Erde durch die Finger rieseln. Ich stand betreten daneben. Ein kalter Luftzug fuhr in die Niederung. Judi hakte sich bei mir ein, als wollte sie sich stützen. „Wo sind die Pflanzen und Tiere? “, fragte sie mit brüchiger Stimme, „wie können wir es nur aushalten ohne sie?“  Ich werde diesen Augenblick nie vergessen, diesen Schmerzabdruck auf ihrem Gesicht nicht und auch die stillen Tränen nicht, die darüber flossen.

Dass es zu diesen gigantischen Kahlschlägen kommen konnte, war den staatlichen Forstämtern zu verdanken, welche die bundeseigenen Waldbestände zu großzügigen Bedingungen und auf Kosten der Steuerzahler an die Holzindustrie verpachtet und damit zum „abernten“ freigegeben hatten. Die Bevölkerung wusste davon nichts, man war der Überzeugung, dass alle bundeseigenen Wälder unter Naturschutz stünden. Als der dreckige Deal mit den Lumber Companies aufflog, setzten sich tausende Umweltschützer aus allen US-Staaten in Bewegung, um sich den „Killa Godzilla“ entgegenzustellen. Eine einzige dieser Rodungsmaschinen kostete über zwei Millionen Dollar und legte pro Tag bis zu tausend Bäume um.

In meiner MAEVA-Trilogie habe ich meinen Protagonisten Cording mit einer Gruppe radikaler Umweltschützer in den Wald geschickt, ich selbst war damals zu feige, mich in diese Schlacht zu begeben. Aber ich habe den Schilderungen der Aktivisten sehr genau zugehört und sie in einem Kapitel meines Buches einfließen lassen:

Cording lauschte dem gespenstischen Geräuschpotpourri, das wie ein akustischer Nebel aus dem Wald stieg. Über allen Wipfeln ist Ruh… Von wegen. Allein das hysterische Geschrei der Vögel hätte ausgereicht, ihm den letzten Nerv zu rauben. Aber die tierische Verzweiflung verschaffte sich nur bedingt Gehör. Am Himmel, die schmatzenden Schläge der Rotorblätter, am Boden das schrille Gebrüll der Kreissägen, gewürzt mit den dumpfen Vibrationen, die vom Aufprall der niedergemetzelten Redwoods rührten. Und als ob die Untergangssinfonie noch eines burlesken Tupfers bedurft hätte, schleuderte ein Ambulanzwagen den zum Tode verurteilten Bäumen seinen Sirenengesang um die Stämme.

Cording blickte zu Ed hinüber, der kreidebleich auf sein Handy starrte.

„Sie machen ernst…“, stammelte er.

„Was meinst du?“

Ed antwortete nicht.

„Was ist los, Mann?!“ rief jemand.

„Sie haben Richard erwischt“, erwiderte Ed wie in Trance. „Bill und Tommy auch. Die anderen sind abgestiegen und verhaftet worden“.

Cording konnte sich keinen Reim daraus machen. Schließlich erfuhr er, dass die Waldarbeiter wohl Anweisung erhalten hatten, auch jene Bäume zu fällen, in deren hohen Kronen „Earth First!“-Aktivisten ihr Leben verpfändeten. Ein Quantensprung der Gewalt. Für Eds Leute bedeutete die Nachricht, dass sie ihren Anschlag auf die „Killa Godzillas“ unbedingt erfolgreich gestalten mussten. Wer ein solches Monstrum ausschaltete, erregte Aufmerksamkeit. Und nichts brauchten die Ökokrieger zurzeit dringender als einen symbolträchtigen und medienwirksamen Erfolg.

Seit fünf Minuten hatte sich auf der Forststraße nichts mehr bewegt. Die beiden Helikopter, die flach über den Bäumen ihre Kreise gezogen hatten, stoben mit tief hängender Stirn in östlicher Richtung davon. Für einen kurzen Moment wurde es still, als hätte jemand dem sterbenden Wald das Leichentuch übergeworfen. Doch die Stille währte nicht lange. Aus der Ferne drang das quietschende Geräusch von Panzerketten an ihre Ohren.

Ed gab das Zeichen. Neun seiner Männer stürmten in Dreiergruppen den Hang hinunter. Die Aufgaben waren genau verteilt. Der erste einer jeden Gruppe wickelte die Zündschnur von der Spule, ein Zweiter hob mit dem Spaten zwei Löcher aus und der Dritte buddelte die Tellerminen ein. Am Ende schlummerten sechs hoch explosive Zwillingsbomben im Abstand von zwanzig Metern in der Piste. Die ganze Angelegenheit hatte keine drei Minuten gedauert. Als die Helikopter zurückkamen und das Kettengerassel anschwoll, lagen die Ökokrieger längst wieder in Deckung.

Cording robbte an den Rand der Höhle. Im selben Moment packte ihn jemand bei den Füßen und zerrte ihn zurück, so dass er nur einen kurzen Blick auf die herannahenden Maschinen werfen konnte. Groß waren sie und breit, ihr Anstrich giftig gelb. Sie leuchteten in den Abgasschwaden des vorausfahrenden Panzers wie Phosphor auf dem Grund der Hölle. Und oben im Führerhaus thronte ein Menschlein, das vermutlich Familie und eine gute Meinung von sich hatte. Das gleich dran glauben musste… Er wunderte sich, dass ihn die Vorstellung nicht schreckte. Diese dienstbaren Kreaturen in ihren Cockpits waren in der Lage, durch eine geringfügige Drehung des Joysticks den Schleier der Schöpfung zu zerreißen und Paradiese in Parkplätze zu verwandeln.

Wieder einmal überkam Cording ein nicht zu bändigender Hass auf die Spezies, der er angehörte und deren einzige Bestimmung die Zerstörung des Planeten zu sein schien. Irgendwann würde er an dieser Erkenntnis zerbrechen. Vielleicht hätte er seine Sensibilität im Widerstand ersticken sollen, er hätte zum Beispiel einer von diesen Guerillatypen werden können. Einer, der bereit war, guten Glaubens einen Forstarbeiter zu erledigen, bevor der letzte Baum zu Boden fiel. Der bereit war, sich selbst zu opfern, falls es notwendig sein sollte. Aber er war nun mal keiner, der klaglos seinen Ameisendienst verrichtete, nicht einmal in einer moralisch hoch gerüsteten Armee. Außerdem war er zu feige für den Kriegsdienst. Er hatte sich für ein Reporterleben entschieden. Als Reporter blieb er unangetastet und wurde doch Zeuge all der Tränen, Ängste, Missverständnisse und Vergewaltigungen, Zeuge von Gewalt und Verbrechen, Zeuge für das gesammelte Aufgebot gegen die Lebensfreude. Auch keine einfach zu ertragende Aufgabe.

Das beeindruckendste Statement über den Redwood-Summer stammt von Julia Butterfly Hill (Jahrgang 1974), die damals folgende Worte in eine Fernsehkamera sprach, nachdem sie 738 Tage in der Baumkrone eines kalifornischen Küsten-Mammutbaums (sie nannte ihn Luna) lebte, um ihn vor der Abholzung zu retten:

Der eigentliche Grund, alles, was ich in meinem Leben hatte, aufzugeben – meine Freunde, meine Arbeit, meine Karriere, meine Klamotten, mich umzudrehen, alles zu verkaufen und in den Wald zu gehen – war der atemberaubende Anblick dieses riesigen uralten Redwood-Baums, dessen Leben unmittelbar bedroht war. Wenn man so ein Wesen auf einem Foto sieht, kann es einen sehr berühren, aber wenn man davor steht, dann haut es einen einfach um. Dieser Wirklichkeitsschock jenseits der Medienwelt, fühlte sich für mich so an, als würde eine Hand meine Eingeweide und mein Herz rausreißen, mich am Nacken packen und ins Geschehen stoßen. Es war nichts Politisches, nichts Wissenschaftliches. Ich glaube, es gibt diese Momente im Leben, wo wir etwas erkennen, und ohne jeden Zweifel wissen, dass es falsch läuft und wir etwas unternehmen müssen.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: Stephen Moehle / shutterstock

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Kommentare (1)

Ein Kommentar zu: “Wie können wir es nur aushalten ohne sie …?

  1. Publicuser sagt:

    Ich mag Bäume, mittlerweile mehr als Menschen!

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