Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld fordert Urteilskraft statt Expertenwissen

Eine Rezension von Eugen Zentner.

„Land ohne Mut“ – Der Titel von Michael Esfelds neuem Buch könnte treffender kaum sein. Er beschreibt nicht nur den Zustand der deutschen Gesellschaft, sondern liefert zugleich aus philosophischer Perspektive eine Erklärung dafür: Sie hat den Geist der Aufklärung hinter sich gelassen. Denn „Mut“ war ihre Grundbedingung, wie Immanuel Kant in seinem geschichtsträchtigen Aufsatz von 1784 zu verstehen gab: „sapere aude!“ Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Dies sei der Wahlspruch der Aufklärung. Nur so könne sich Urteilskraft herausbilden, durch die Menschen zu mündigen Bürgern werden. Während der Corona-Zeit zeigte sich jedoch, dass der Großteil der Gesellschaft wieder eher auf Autoritäten hört, anstatt sich des eigenen Verstandes zu bedienen.

In seinem Buch bettet Esfeld diese Erkenntnis in einen größeren Kontext ein, indem er die Ursachen für den gegenwärtigen Zustand aus dem Übergang von der Moderne zur Postmoderne beschreibt. Diese Entwicklung, so seine Hauptthese, führe zu einer neuen Form des Totalitarismus. Und die treibende Kraft sei die Wissenschaft. Esfeld erläutert diesen Zusammenhang anhand ihrer Rolle während der Corona-Krise, als politische Maßnahmen und Freiheitseinschränkungen mit dem Slogan „follow the science“ gerechtfertigt wurden. Allerdings, so der Wissenschaftsphilosoph, habe es „zu keinem Zeitpunkt Fakten gegeben, die den Schluss zuließen, dass eine Infektion mit dem Coronavirus eine außerordentliche Gefahr für die allgemeine Bevölkerung darstellt“. Die „Pandemie“ sei nicht auf Grundlage „empirischer Evidenz“ begründet worden, sondern mithilfe von „Modellrechnungen“, die man beliebig manipulieren könne.

Esfelds Urteil fällt schonungslos aus:

„Um politischen Einfluss auszuüben, musste man bewusst und absichtlich methodisch korrekt vorgehende Wissenschaft aufgeben“.

Dieses Phänomen bezeichnet er als „politischen Szientismus“. Der Begriff steht für eine Praktik, bei der die Wissenschaft zu Machtzwecken gebraucht und zu einem politischen Programm zur Steuerung des menschlichen Lebens umgeformt wird. Das führe in den Totalitarismus, so Esfeld. Er verdeutlicht das anhand eines Vergleichs mit den vorherigen Totalitarismen – dem kommunistischen und dem nationalsozialistischen. Sie

„weichen von dem übergeordneten Weg der Moderne ab, indem sie die Wissenschaft in den Dienst einer bestimmten Ideologie stellen und sich über die Menschenrechte hinwegsetzen“.

Ein wesentliches Merkmal der Moderne sei nämlich, dass Vernunft dem Zweck diene, die Ausübung von Macht zu begrenzen.

In der „real existierenden Postmoderne“ gibt es eine derartige machtbegrenzende Instanz nicht mehr, weil der Gebrauch von Vernunft nicht mehr universell, sondern „jeweils an eine bestimmte Kultur, Religion, Ethnie, Geschlecht, sexuelle Orientierung usw. gebunden“ ist. Diese Relativierung unterscheidet sie von der Moderne, die, wie Esfeld philosophisch schlüssig erläutert, von einer großen Erzählung getragen wird, was als „allgemeines Gut“ gilt: die Vernunft eben. Das Kennzeichen der real existierenden Postmoderne bestehe hingegen darin, dass man von einer kleinen Erzählung zu einer anderen springt. Und jede von ihnen postuliere ein anderes allgemeines Gut – ob nun Zero-Covid im Corona-Regime oder CO2-Neutralität im Klima-Regime. Darin zeige sich zugleich der Unterschied zwischen dem postmodernen Totalitarismus und den beiden vorherigen. In diesen wurden die Menschen jeweils auf ein allgemeines Gut hin gesteuert – auf eine klassenlose Gesellschaft im Kommunismus und auf eine reinrassige Gesellschaft im Nationalsozialismus. Heute aber, schreibt Esfeld, gebe es kein absolutes Gut mehr, das als das Endziel der Geschichte dargestellt werde.

Der Wissenschaftsphilosoph beschreibt nicht nur die Ursachen der heutigen Misere, sondern macht auch Vorschläge. Für ihn muss die Gesellschaft zurückkommen zu einem Staat, der auf festen Beinen der Urteilskraft steht. Die Bürger spielen dabei eine genauso entscheidende Rolle wie die Wissenschaft und die Rechtsordnung. Die Urteilskraft, so Esfeld, müsse das hochspezialisierte Expertenwissen ersetzen, „um neue Herausforderungen der Sache nach angemessen einzuschätzen und verhältnismäßig auf sie zu reagieren“. Als genauso wichtig erachtet er die Skepsis gegenüber der Machtkonzentration. Auf ihr beruhe die real existierende Postmoderne, weil die Staatsgewalt sich verschiedene Gruppen wie Wissenschaftler, Intellektuelle, Medienschaffende oder große Konzerne zu Nutze mache. Um diese Machtkonzentration zu brechen, müssen die Bürger Esfeld zufolge Zivilcourage zeigen und den Mut zum freien öffentlichen Gebrauch der Vernunft finden.

Der Wissenschaftsphilosoph hat es während der Corona-Krise selber vorgemacht. Im Dezember 2020 machte er bundesweit Schlagzeilen, als er sich als Mitglied der Leopoldina gegen deren siebente ad-hoc-Stellungnahme positionierte. Diese diente damals der Regierung von Angela Merkel als Legitimation für den im Dezember 2020 begonnenen und danach über Monate hinweg verlängerten Lockdown. Auf diesen Konflikt geht der Autor in seinem Buch noch einmal ein und bekräftigt seinen Standpunkt, dass weder zu dem Zeitpunkt noch zu einem anderen während der gesamten Krise keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse existierten, die solche Maßnahmen rechtfertigen.

Esfeld beschreibt die wissenschaftlichen Verfehlungen in einer klaren und verständlichen Sprache, selbst dann, wenn er intellektuell in die Tiefe geht. Um den gegenwärtigen Zeitgeist zu erläutern, unternimmt er sogar einen Exkurs in die Antike, wo er in der Philosophie Platons die Ursprünge des totalitären Denkens ausmacht. Descartes dient hingegen als Taktgeber für die Moderne, die Esfeld als Vorbild hochhält. Um den Ausführungen zu folgen, hilft philosophisches Vorwissen durchaus. Es ist aber nicht unbedingt notwendig, weil es dem Autor meisterhaft gelingt, komplexe Zusammenhänge plastisch darzustellen. Zumal er sich beim Aufbau des Buches an der Dramaturgie des Film-Klassikers „Zurück in die Zukunft“ orientiert. Die Lektüre ermöglicht intellektuellen Genuss und liefert Erkenntnisse, die leicht in die Praxis übersetzt werden können. „Um die real existierende Postmoderne zu beenden“, schreibt Esfeld abschließend, „müssen wir zu den Wurzeln der Moderne zurückgehen“.

„Es ist eine Entflechtung der Machtkonzentration bei der Staatsgewalt erforderlich, genau wie zu Beginn der Moderne das Machtkonglomerat von Kirche und Staat zerschlagen wurde und sich dadurch der Rechtsstaat und die freie Wissenschaft entwickelt haben.“

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: Alex from the Rock / Shutterstock.com

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Kommentare (7)

7 Kommentare zu: “Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld fordert Urteilskraft statt Expertenwissen

  1. Zivilist sagt:

    Ich bin ja ganz froh über Herrn Esfeld's Denke, (und froh, daß ich keiner Instution DIESES Staates angehöre) aber ich möchte es doch noch etwas zuspitzen.

    Es ist nicht politischer Szientismus, sondern einfach Quacksalberei, oder, wenn ich mich unverständlich machen möchte: ökonomischer Szientismus, (und der Politismus ist auch ökonomisch) aber das war die Quacksalberei immer. Und die Ökonomie ist keine Wissenschaft, war sie nie und wenn man ihre Geschichte in Relation setzt zu der realen Geschichte, fallen einem die Schuppen von den Augen und stehen die Haare zu Berge. Und die praktizierte Ökonomie ist nur eine höchst pervertierte Abart von Ökonomie. Es geht nämlich um das Brot, das auf den Tisch kommt etc und nicht die Geldströme.

    Viele Jahre lernen die Kids den Meinungsführer zu erkennen und nachzuplappern und nach dieser gründlichen Gehirnwäsche am Anfang reicht dann täglich Weichspülen mit ARD fü den Rest des Lebens. Auch wenn's um Northstream geht und auch in den alternativen Medien läuft das so, da hat Hersh einen hohen Wert, aber niemand macht sich die Mühe, seine Argumente abzuarbeiten, es sind nämlich gute darunter und schlechte, sein Technikverständnis ist leider sehr beschränkt.

    Und weil allen beigebracht wird, daß sie blöde sind und weil die Meisten das glauben, wird dann der Experte aus dem Zylinder gezogen und je unverständlicher, desto, Aber: der Experte hat gesagt . . ,

    Und der Westen mit seinen geheimen Werten, wir sollten mal den Fortschtritt von seinem Podest schubsen, ohne gesellschaftlichen Fortschritt führt der technische, den es geben mag, in die Katastrophe.

    Die Entflechtung bei der Staatsgewalt, naja, wir wollten ja mal alle Gewalten teilen aus dem Mißtrauen dem Staat gegenüber und das ist dringend geboten, wenn hinter den Kulissen ein so extrem menschenfeindlicher Geist wie der der Profitmaximierung herrscht, wenn dort ein menschenfreundlicher Geist herrscht, wie etwa das Streben nach Harmonie, kann eine Bündelung der Kräfte (= Faschismus) sehr gute Ergebnisse hervorbringen.

    Ich würde den Zustand Deutschlands auch nicht als Mangel an Mut beschreiben, eher als krassen Mangel an Wahrnemungsfähigkeit: Oben brennt das Dach und unten machen sie weiter Party.

  2. berndraht sagt:

    Den besprochenen Autor Michael Esfeld und sein Engagement im Streit für aufgeklärtes Denken schätze ich sehr, in der Rezension von Eugen Zentner finde ich aber ein etwas einäugiges Verständnis. Das Motto der Aufklärung, nämlich die von Kant bei dem Autor Quintus Horatius Flaccus in den Epistolarum entlehnte Sentenz „sapere aude“ wird hier nicht treffend in seiner ganzen Bedeutung übersetzt. Sapere meint im Latein nicht nur das Wissen, die Kognition des Verstandes sondern auch die sinnliche Wahrnehmung: riechen, hören. fühlen, schmecken, sehen. Verständig sein, weise sein, klug sein. Gereift, weise durch eigene Lebenserfahrung: Il fault savoir heißt das Chanson von Charles Aznavour. Das ist die Bedeutungsebene, der Teil, den die Rezension hier ignoriert.
    https://www.youtube.com/watch?v=_PO3H1DD1iw

    Die Sinne können nicht nur täuschen, sondern unsere sinnliche Wahrnehmung ist ebenso eine Quelle und ein möglicher Weg zu Erkenntnis. Man soll demnach neben der eigenen Ratio auch der eigenen sinnlichen Wahrnehmung trauen. Man konnte den monströs angelegten Betrug der Pandemie-Lügen nämlich im metaphorischen Sinne auch riechen, die vielfach wechselnden „Argumente“ der Panikmacher und Propagandisten intuitiv erspüren, die verlogene Panikmache und Diffamierung der Maßnahmenkritiker konnten einem stinken, man konnte Kanzlerin Merkel sehend verstehen, als sie im TV mit der Deutschlandfahne zur autoritätsverstärkenden regierungsamtlichen Dekoration eindrücklich mahnte, die Pandemie ernst zu nehmen. Man konnte durchaus durch die witzigen Beiträge der Serie #alles dichtmachen die Lächerlichkeit des Narrativs mit seinen Sinnen und seinem Verstand als gelungen Ironie erkennen. Land ohne Mut passt aber für beide Bedeutungsebenen.

    • Nevyn sagt:

      Schöner und sehr stimmiger Kommentar, Berndraht.
      Danke.
      Jeder konnte das Land ohne Mut sehen, als die Schisser das Klopapier paketweise nach Hause schleppten, während die Italiener Wein kauften und die Franzosen Kondome.

    • Zivilist sagt:

      Die Deutschen Klopapier, die Italiener Wein und die Franzosen Kondome Hahaha!

      Meine erstaunliche Erfahrung ist, daß man sich mit vielen Menschen vernünftig unterhalten kann über Dinge, von denen sie eigene Erfahrungen haben. Aber CO², Corona, China . . . ist ganz schwierig, da artet das leicht in einen Glaubenskrieg aus. Wenn es hier überhaupt um Mut geht, dann um den Mut zum Nicht- Wissen, daß man sich traut, es nicht durch Glauben zu kompensieren.

  3. Onkel Ulrich sagt:

    Mit Täuschung und Verbreitung von Lügen läßt sich sehr viel (finanzielle) Macht generieren. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß in der Annahmenschaft (fälschlicherweise häufig als "Wissenschaft" bezeichnet) auch interne Korruption zur Aneignung von Status und Titeln grassiert. Der Begriff "Experte" ist weder geschützt, noch hat eine eine wirkliche Bedeutung, als gerne in der Propaganda zur Verbreitung von Lügen verwendet zu werden. Gewiss gibt es auch Experten, die der Wortherkunft gerecht werden: Entweder stehen ihre Annahmen keinen Ränkespielen im Wege, oder aber die Experten bleiben unerhört, oder verunfallen. Die Urteilskraft bleibt letztlich entscheidend, wobei das schwache Gesetz der Penetranz gilt. Umso mehr Aufwand betrieben wird, Menschen in eine Richtung zu drängen, um so wahrscheinlicher ist es, daß es für die Menschen besser wäre, die Gegenrichtung anzusteuern. Und natürlich noch das gute, alte: Cui bono?

  4. _Box sagt:

    Allerdings wäre das mal was. Nur mal so als Frage, warum ist dem den Scientismus beklagenden "Experten," die alles durchdringende kapitalistische Ideologie enfleucht? Und warum getraut er sich nicht die Bezeichnung seiner Extremform, den Faschismus, auch als solchen zu benennen.

    Ist es nicht viel mehr so, daß hier unter dem Anschein von Wissenschaftlichkeit der Anschein von Wissenschaftlichkeit beklagt wird? Scientismus beklagt und Scientismus praktiziert.

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